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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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Solcher Verschlüsselung begegnet man auch bei Dickens immer wieder.
    Manches spricht dafür, dass die sexuelle Prüderie eine Strategie war, mit der die viktorianische Gesellschaft ihr schlechtes Gewissen beschwichtigte, das die gesamte Epoche unterschwellig prägte. Das Selbstbild der Viktorianer war tief gespalten. Was sich im Großen in der Sympathie für die irische Home Rule-Bewegung auf der einen und in der Begeisterung für einen expansionistischen Imperialismus auf der anderen Seite zeigt, wiederholte sich im Privaten im Bekenntnis zu ideellen Werten bei gleichzeitiger Jagd nach dem Mammon. Moralischen Rechtfertigungs- und Beschwichtigungsstrategien begegnet man in der viktorianischen Kultur auf Schritt und Tritt. So war beispielsweise das Hauptargument gegen die Beschäftigung von Frauen in heißen Kohleschächten nicht etwa die unmenschliche Härte der Arbeit, sondern dass man nicht zulassen dürfe, dass Frauen dort wie Männer mit nacktem Oberkörper arbeiteten.
    Dickens selber verkörpert wie kaum ein anderer den viktorianischen Zwiespalt. In seinem realen Leben war er ein hart verhandelnder Geschäftsmann, der gegen Ende seines Lebens den hohen Honoraren für seine Vortragsreisen bis zur Erschöpfung nachjagte, während er in seinen Romanen regelmäßig den Verlust eines Vermögens als moralischen Gewinn darstellt, wobei die Opfer des gesellschaftlichen Wettbewerbs zu moralischen Siegern erklärt werden. Es scheint so, als brauchten die Viktorianer zur Entschuldigung ihres hemdsärmligen Erwerbsstrebens die Identifikation mit solchen Opfern, seien es Kinder wie Oliver Twist und Little Nell oder wie der sich selbst opfernde Sydney Carton in
Eine Geschichte zweier Städte.
    Es mutet sonderbar an, dass ausgerechnet unter einer Königin, nachder die ganze Epoche benannt wird, die englische Frauenbewegung erlahmte. Im 18. Jahrhundert war diese Bewegung eine englische Errungenschaft. Doch nach den emanzipierten Frauen der Blaustrumpf-Gruppe und nach der Kampfschrift von Mary Wollstonecraft, die 1792 die Gleichberechtigung der Frau einforderte, kam es erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Suffragettenbewegung wieder zu tatkräftigen Aktionen. Königin Viktoria war strikt gegen das Frauenwahlrecht, und auch Dickens lehnte es ab. Zu den wenigen Rufern in der Wüste, die sich für die Gleichberechtigung einsetzten, gehörte als prominentester Vertreter John Stuart Mill, in dem Dickens nicht den liberalen Genossen, sondern nur den Vertreter des ihm verhassten Utilitarismus sah.
    Dringlicher als das Frauenwahlrecht war allerdings die Verbesserung der Eigentumsrechte verheirateter Frauen. Bis zum
Married Women’s Property Act
von 1870 hatte der Ehemann das alleinige Verfügungsrecht über den Besitz seiner Frau und über ihre Arbeitseinkünfte. So konnte ein trunksüchtiger Mann den Lohn seiner Frau pfänden lassen, um das Geld danach zu vertrinken. Nur für vermögende Frauen ermöglichte das Billigkeitsrecht besondere Rechtskonstruktionen, die es erlaubten, den eigenen Besitz vor dem Zugriff des Ehemanns zu sichern. Eine weitere Benachteiligung der Frau gab es beim Scheidungsrecht. Hier war es schon für den Mann nicht leicht, eine Scheidung zu erwirken, für die Frau war es nahezu unmöglich. Bis 1857 konnte eine Scheidung nur durch einen Parlamentsbeschluss ausgesprochen werden. Erst danach gab es die Möglichkeit einer gerichtlichen Scheidung, wobei die Benachteiligung der Frau bestehen blieb. Denn ein Mann konnte die Scheidung verlangen, wenn die Frau ihm untreu war, während die Frau die Scheidung nur bekam, wenn auf seiten des Mannes zur Untreue eine andere Verfehlung wie Grausamkeit, Vergewaltigung, Inzest oder Sodomie hinzukam. Auf das Scheidungsproblem kommt Dickens in seinem Roman
Harte Zeiten
zu sprechen. Doch bezeichnenderweise zeigt er dort keine Frau, die an einen trunksüchtigen Mann gekettet ist, sondern einen Mann, der eine Trinkerin am Halse hat.
    So sehr Dickens gegen das agitierte, was er als Utilitarismus verstand, so entschieden stand er dennoch im liberalen Lager und auf der Seite des wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritts. Die im konservativen Lager zunehmende nostalgische Sehnsucht zurück ins Mittelalterwar ihm zuwider. In den von ihm herausgegebenen Zeitschriften bot er seinen Lesern immer wieder populärwissenschaftliche Information, auch wenn es sich dabei von seiner Seite um ein eher oberflächliches Interesse handelte.
    Ob er das folgenreichste wissenschaftliche
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