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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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war die Staatskirche im Laufe der Zeit immer liberaler geworden. 1829 wurde mit dem
Catholic Emancipation Act
auch die Benachteiligungder Katholiken endgültig beseitigt, während die Juden noch bis zum
Jewish Relief Act
von 1858 warten mussten.
    Insgesamt war die englische Kirche im 19. Jahrhundert auf religiösem Gebiet durch zunehmende Toleranz geprägt. Ihr geistiger Einfluss auf die Bevölkerung war eher gering. Doch groß war noch immer ihre politische und soziale Macht. Bei der Vergabe von Ämtern in der lokalen und regionalen Verwaltung hatte sie ein kräftiges Wort mitzureden; und im Oberhaus hatten die Bischöfe, die dort qua Amt Sitz und Stimme hatten, weiterhin Einfluss. Die zunehmende Laxheit im Religiösen rief jedoch 1833, kurz nach der Verabschiedung des ersten Reformgesetzes, das sogenannte
Oxford Movement
ins Leben. Den Anstoß dazu gab John Keble mit einer scharfen Predigt gegen den «nationalen Abfall» vom wahren Glauben. Im selben Jahr publizierten John Henry Newman, R. H. Froude und andere die Schrift
Tracts for Our Times
(
Traktate für unsere Zeit
), deren Tenor die Forderung nach einer Rückkehr zu den strengen kirchlichen Ritualen war. Die
Tractarians
, wie man sie nannte, gewannen stetig an Einfluss. Am konsequentesten war Newman, der die Forderung nach einer Rekatholisierung der anglikanischen Kirche so weit trieb, dass er schließlich die Kirche verließ, zum Katholizismus übertrat und dort Kardinal wurde. Dickens war der Konservatismus der Hochkirche ebenso zuwider wie der religiöse Eifer der Evangelikalen. Besonders wütend machte ihn die als
sabbatarianism
bezeichnete Kampagne, die eine strikte Einhaltung der Sonntagsruhe forderte. Auch wenn die radikalste Forderung nach völligem Stillstand des öffentlichen Lebens einschließlich der Verkehrsmittel nicht durchkam, wurde damals durch eine Reihe von gesetzlichen Einschränkungen der Grund für die sprichwörtliche Langeweile der englischen Sonntage gelegt, die bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts anhielt.
    Sieht man einmal vom Krimkrieg ab, in dem fernab von England zwischen 1854 und 1856 45.000 britische Soldaten verbluteten, so war die viktorianische Epoche bis zu Dickens’ Tod friedlich. Während Frankreich 1831 und noch einmal 1848 von einer Revolution erschüttert wurde, die sich im zweiten Fall auf große Teile des Kontinents ausdehnte, gelang es der englischen Regierung, den revolutionären Druck rechtzeitig abzufangen und in Reformen zu überführen. Auch beim Aufbau des Empires fanden die kriegerischen Auseinandersetzungen weit weg vom Mutterland in Indien statt. Auf dem europäischen Kontinentwurde die Geburt des Deutschen Reiches mit Kriegen Preußens gegen Dänemark und Österreich eingeleitet und zuletzt mit dem Krieg gegen Frankreich vollendet. Über England breitete sich währenddessen ein milder Himmel aus, der gegen Ende des Jahrhunderts den leicht melancholischen Charakter eines
Indian summer
annahm.
    Allerdings zog gerade diese Milde in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Verachtung der Intellektuellen auf sich. Damals erhielt das viktorianische Zeitalter den Stempel des Engherzigen, Muffigen, Heuchlerischen und Spießigen. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis sich eine gerechtere Beurteilung durchsetzte. Heute sieht man, dass die viktorianische Gesellschaft nicht nur tatkräftig, sondern auch weltoffen und gar nicht so engherzig war. Im Vergleich mit anderen Gesellschaften der westlichen Welt zeichnete sie sich durch einen nüchternen Sinn für wirtschaftlichen Fortschritt und Verbesserung der sozialen Verhältnisse bei gleichzeitiger Wertschätzung für kulturelle Leistungen aus. Während anderswo Anzeichen von Fäulnis und Gärung zu beobachten sind – man denke an symptomatische Gestalten wie Poe in Amerika, Baudelaire in Frankreich und Nietzsche in Deutschland –, ist die wohl repräsentativste Gestalt jener Zeit in England Charles Darwin, der den Evolutionsgedanken ins Zentrum rückte. Sein Bild eines zwar gnadenlosen, aber auf Gleichgewicht ausgerichteten Wettbewerbs in der Natur entspricht im Wesentlichen der ökonomischen Realität seiner Zeit. Insofern zeichnet sich das viktorianische England gegenüber seinen Konkurrenten durch eine vergleichsweise «gesunde» Entwicklung aus, wenngleich auch hier der Druck im Kessel zunahm.
    Bis zu Dickens’ Tod war das Land aber noch in einem steilen Aufstieg begriffen. Die herrschende Ideologie war von Optimismus, Rationalität und
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