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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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Drama spielte eine untergeordnete Rolle und brachte wenig Originelles hervor. Selbst die Lyrik, die auf hohem Niveau den Vorbildern der Romantik folgte, trägt epigonale Züge.
    Wirklich kreativ und dynamisch war die Entwicklung nur auf dem Gebiet des Romans, was auf die oben erwähnte Situation auf dem Buchmarkt zurückzuführen ist. Romane erzielten zu Dickens’ Zeiten eine gut zehnmal so hohe Auflage wie im 18. Jahrhundert zur Zeit von Fielding und Richardson. Wenn Dickens’ Werke in wöchentlichen oder monatlichen Fortsetzungsheften erschienen, stürzten sich bis zu hunderttausend Käufer auf jede neue Lieferung. Das brachte den Autoren beträchtliche Einkünfte. Dickens und Thackeray hatten Jahreseinkünfte von 5000 bis 10.000 Pfund. Das war das Hundert- bis Zweihundertfache des Einkommens eines Industriearbeiters. Nimmt man allein die Produktion derjenigen Autoren, die heute in Literaturgeschichten erwähnt werden, so ist die schon eindrucksvoll genug. Doch hinter der ersten Reihe stand eine zweite und dritte, die mit unermüdlichem Fleiß Roman für Roman auf den Markt warfen. Unter den Autoren waren sehr viele Frauen, deren Produktion besonders hoch war. So schrieben Charlotte Yonge und Margaret Oliphant jeweils rund 100, Catherine Gore 56, Ouida (ein Pseudonym für Marie Louise de la Ramée) über 40 und Mrs. Craik 34 Romane. Da Autorinnenlange Zeit gegen Vorurteile ankämpfen mussten, wählten sie zuweilen männliche Pseudonyme. So schrieb Mary Ann Evans ihre bedeutenden Werke unter dem Namen George Eliot. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts galt umgekehrt eine Autorin als sichere Garantie für eine sittsame Familienlektüre, was William Sharp bewog, seine Romane unter dem weiblichen Pseudonym Fiona Macleod zu publizieren. Die Gesamtzahl der während der Regierungszeit Königin Viktorias publizierten Romane wird auf über 60.000 geschätzt. Allein im Zeitraum 1841 bis 1871, in dem Dickens publizierte, kam es zu einer Vervierfachung der Buchproduktion.
    Als typisches Merkmal der viktorianischen Kultur gilt aus heutiger Sicht die Prüderie. Nach dem oben Gesagten ist verständlich, dass in Büchern, die im Familienkreis vorgelesen wurden, keine expliziten Schilderungen von körperlicher Erotik enthalten sein durften. Doch so prüde, wie es das gängige Vorurteil nahelegt, waren die Viktorianer nicht. Immerhin erreichte ein Buch von Dr. Drysdale, das sehr liberale Aufklärung zur Empfängnisverhütung bot, zwischen 1854 und 1905 30 Auflagen. Von einer sexfeindlichen Atmosphäre kann jedenfalls keine Rede sein. Ehelicher Geschlechtsverkehr galt als normal und gesund. Die große Zahl von Prostituierten in London – in einer Quelle ist von 80.000 die Rede, was übertrieben sein dürfte – und die florierende Pornographie, die unter dem Ladentisch gehandelt wurde, sind allerdings Indizien dafür, dass die sexuelle Sphäre in den nichtöffentlichen Teil des gesellschaftlichen Lebens verdrängt wurde. Dies ist neben anderen Faktoren der evangelikalen Bewegung zuzuschreiben, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig an Boden gewann.
    In einem Punkte scheinen die Engländer anders empfunden zu haben als ihre Zeitgenossen auf dem Kontinent. Während dort der Typus der
femme fatale
auffallend zahlreich auftrat, spielte er in der englischen Literatur eine geringere Rolle. Das Frauenbild der Viktorianer war das des «Engels im Haus», den Coventry Patmore ab 1854 in einer so betitelten mehrteiligen Gedichtsequenz besang. Das viktorianische England war von einer tiefen Sehnsucht nach Unschuld geprägt, im sexuellen wie im moralischen Sinne. Diese Sehnsucht drückt sich in der sentimentalen Darstellung von Kindern ebenso aus wie in der Rückwendung zu idealisierten Formen von Männlichkeit, wie sie König Artus verkörperte,in dem man das mythologische Urbild der eigenen Gentleman-Kultur sah. Die Präraffaeliten suchten die Unschuld der Kunst in der Malerei vor Raffael, und Lewis Carroll suchte sie in dem Wunderland, von dem er seiner kleinen Freundin Alice Liddell erzählte. Wie viel unterdrückte – oder, um es positiver zu sagen, sublimierte – Sexualität darin zum Ausdruck kommt, zeigt sich in den Fotos, die Carroll von kleinen Mädchen machte. Deren Posen haben einen unübersehbaren Zug von Laszivität. Carroll hatte – soviel scheint sicher – keines dieser Mädchen jemals unsittlich berührt, doch die Fotos zeigen deutlich, was in
Alice im Wunderland
raffiniert verschlüsselt ist.
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