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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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Irlands, die sogenannte
Home rule debate
, verband. Diese Kampagne setzte zwar erst in Dickens’ Todesjahr ein, doch das Irland-Problem war spätestens seit der durch die Kartoffelfäule 1845 ausgelösten Hungersnot ständig virulent. Dickens schätzte Gladstone mehr als Disraeli, doch er war auch ihm gegenüber kritisch. Von Carlyle ist die Äußerung überliefert, dass Dickens «nur Tweedledum dem Tweedledee vorgezogen» habe, zwei Figuren auseinem englischen Kinderreim. Der Widerstreit zwischen Imperialismus und Liberalismus spaltete England in der hochviktorianischen Epoche so, wie es in der frühviktorianischen der Konflikt zwischen konservativen Grundbesitzern und industriellen Unternehmern getan hatte.
    Obwohl sich im 19. Jahrhundert eine rasant fortschreitende Verstädterung der englischen Gesellschaft vollzog, blieb das verinnerlichte Selbstbild der städtischen Mittelschicht dennoch stark vom Vorbild des Landadels, der
gentry
, geprägt. Städte und Gentry waren seit dem Hochmittelalter, als sich beide im Unterhaus zusammenfanden, durch eine Interessenallianz verbunden. Kulturell bewirkte diese Allianz, dass sich das Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert an der sozial höher stehenden Schicht des Landadels orientierte, was im 19. Jahrhundert zu einem Prozess der Gentrifizierung der Mittelschicht führte. In der Literatur ist dies schon daran abzulesen, dass der allergrößte Teil der Romane im Umkreis des Landadels spielt. Die große Ausnahme ist Dickens, dessen Gesamtwerk wie ein Sozialatlas der Stadt London anmutet. Dennoch strebte auch er nach dem Ideal eines Lebens als Gentleman auf einem standesgemäßen Landsitz, und er verwirklichte es als Krönung seines Lebens mit dem Kauf seines Altersruhesitzes Gad’s Hill Place in der Grafschaft Kent.
    Eines der drängendsten Probleme der frühviktorianischen Phase war die Armenfürsorge. Das ganze Mittelalter hindurch hatte die Verantwortung dafür bei der Kirche gelegen. Mit der Auflösung der Klöster unter Heinrich VIII. verschwand diese wichtigste karitative Institution, und an ihrer Stelle mussten die Gemeinden die Fürsorgepflicht übernehmen. Das führte während der industriellen Revolution dazu, dass die Armen sich nicht in den Industriezentren Arbeit suchten, weil sie dadurch den Anspruch auf Unterstützung durch ihre Heimatgemeinde verloren hätten. Dies Problem wurde 1834 mit einer harten Maßnahme gelöst, als der
Poor Law Amendment Act
das geltende Armenrecht dahingehend veränderte, dass Unterstützung nur noch den Alten und Gebrechlichen gewährt wurde, während alle arbeitsfähigen Armen, getrennt nach Geschlecht, in Arbeitshäusern ihren Unterhalt verdienen sollten. Diese Härte, gegen die Dickens immer wieder zu Felde zog, hatte den gewünschten Effekt und trieb die Arbeitslosen dorthin, wo es Arbeit gab. Damit erwies sich das, was für die unmittelbar Betroffenen grausam war, für das Gemeinwohl als positiv.
    Die ökonomische Basis des Reformprozesses war die zweite Phase der industriellen Revolution, in der zur Textilindustrie, die im 18. Jahrhundert das Feld beherrschte, nun die Schwerindustrie hinzukam, die durch den Eisenbahnbau in ihrer Entwicklung dramatisch beschleunigt wurde. Überall, wo es Kohle gab und die Verkehrsanbindung günstig war, entstanden Stahlwerke. Das schon im 18. Jahrhundert gut ausgebaute Kanalsystem erlaubte preisgünstige Massenguttransporte, während das rasant anwachsende Eisenbahnnetz den schnellen Transport der Fertigprodukte zu den Verbrauchern und zu den Häfen ermöglichte. Darüber hinaus veränderte die Eisenbahn die Gesellschaft insgesamt. Reisen wurde nun auch für die ärmeren Schichten erschwinglich. Das förderte die Mobilität und die soziale Durchmischung.
    Was in England am meisten im Argen lag, war das Rechtswesen. Das älteste Rechtskorpus ist hier noch heute das
Common Law
, ein ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, das erst durch die Niederschrift von Gerichtsentscheidungen zum
corpus iuris
wird. Da sich im Laufe der Zeit die gesellschaftliche und ökonomische Lebenswelt der Bürger veränderte, waren alte Präzedenzfälle oft nicht mehr der aktuellen Realität angemessen. Das führte schon früh dazu, dass der König seinen Kanzler in dessen Rolle als «Behüter des königlichen Gewissens» beauftragte, ungerechte Urteile nach dem Prinzip der Billigkeit zu korrigieren. Ein Urteil, das nach dem Common Law
rechtmäßig
war, sollte nach Möglichkeit auch
gerecht
und
billig
sein. Der Kanzler,
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