Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
América

América

Titel: América
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
1
    Im nachhinein versuchte er, sich die Sache in abstrakten Begriffen zu erklären, als Unfall in einer unfallträchtigen Welt, als Kollision gegenläufiger Kräfte - seiner Stoßstange und der schmächtigen, geduckten, plötzlich hervorstürzenden Gestalt eines dunkelhäutigen Kerlchens mit gehetztem Blick -, aber allzugut gelang es ihm nicht. Dies war keine statistische Größe in einer Versicherungstabelle, die in irgendeiner Schublade verstaubte, dies war kein unpersönlicher reiner Zufall. Passiert war es ihm, Delaney Mossbacher, wohnhaft Piñon Drive 32, Arroyo Blanco Estates, liberaler Humanist ohne Verkehrssündenregister und in einem wachsgepflegten japanischen Auto mit persönlichem Kennzeichen, und es traf ihn bis ins Mark. Wohin er den Blick auch wandte, überall sah er diese geröteten Augen, den weit aufgerissenen Mund, die schlechten Zähne und die merkwürdigen grauen Stellen in dem buschigen, schwarzen Schnurrbart - das Bild suchte seine Träume heim, schob sich auch tagsüber in seine Gedankenwelt, wie ein Fenster zu einer anderen Wirklichkeit. Er erkannte sein Opfer auf einem Briefmarkenbogen in der Post wieder, als Spiegelung in den blitzblanken Glasscheiben der langsam zuschwingenden Doppeltür von Jordans Grundschule, und es starrte ihm aus seinem Omelett aux fines herbes entgegen, wenn er am frühen Abend bei Emilio essen ging.
    Das Ganze war so rasch gegangen. Eben noch war er den Cañyon hinaufgekurvt, den Rücksitz voll mit Zeitungen, Mayonnaisegläsern und Cola-light-Dosen für die Altstoffcontainer, und hatte an nichts, an absolut gar nichts gedacht, und im nächsten Augenblick schleuderte das Auto in einer Staubwolke quer zur Fahrbahn auf die Bankette. Der Mann mußte in den Büschen gekauert haben wie irgendein Raubtier, ein streunender Hund oder eine Katze auf Vogeljagd, um sich im allerletzten Moment in einem wahnwitzigen, selbstmörderischen Akt auf die Straße zu stürzen. Da waren auf einmal dieser entgeisterte Blick, der buschige Schnurrbart, der zum stummen Schrei aufgerissene Mund und dann der Bremsruck, der Aufprall, das Marimba-Geprassel der Steine gegen den Unterboden und schließlich die Staubwolke. Der Motor war abgewürgt, die Klimaanlage lief auf Hochtouren, im Radio brabbelte eine Stimme über Einfuhrquoten und den amerikanischen Arbeitsmarkt. Der Mann war verschwunden. Delaney öffnete die Augen wieder und entspannte die zusammengebissenen Kiefer. Der Unfall war vorbei, gehörte bereits der Vergangenheit an.
    Zu seiner Beschämung dachte Delaney als erstes an das Auto (war es beschädigt, verbeult, zerkratzt?), dann an die Versicherungsprämie (was würde nun aus seinem Bonus für unfallfreies Fahren werden?) und erst danach, reichlich spät, an das Opfer. Wer war der Mann? Wohin war er verschwunden? War ihm was passiert? War er verletzt? Am Verbluten? Am Sterben? Delaneys Hände am Lenkrad zitterten. Automatisch zog er den Schlüssel heraus und schaltete das Radio ab. Erst jetzt, noch in den Gurt gespannt und vom Adrenalin durchpulst, wurde ihm klar, was da wirklich geschehen war: er hatte einen anderen Menschen verletzt, möglicherweise getötet. Es war nicht seine Schuld, weiß Gott nicht - der Mann war offenkundig ein Verrückter, ein durchgedrehter Selbstmörder, und kein Geschworenengericht würde ihn je verurteilen -, aber trotzdem, es war passiert. Mit rasendem Herzklopfen ließ er den Gurt zurückschnappen, machte behutsam die Tür auf und trat vorsichtig auf den sonnenheißen Randstreifen aus blankem Kies und Unrat.
    Sofort und noch ehe er auch nur Atem holen konnte, wurde er fast umgeworfen vom Fahrtwind der Autos, die dicht an dicht den Cañyon hinaufrasten wie ein endloser bedrohlicher Eisenbahnzug. Er klammerte sich an seinem Wagen fest, während die Sonne seinen Kopf in einem Würgegriff packte und die nicht klimatisierte Hitze des Asphalts ihm wie eine Faust entgegenfuhr, ein K.-o-Schlag ins Gesicht. Wieder schossen zwei Autos vorbei. Ihm war schwindlig. Er schwitzte. Seine Hände zitterten. »Ich habe einen Unfall gehabt«, sagte er vor sich hin, wiederholte es immer wieder wie ein Mantra, »ich habe einen Unfall gehabt.«
    Aber wo war das Opfer? War es davongeschleudert worden? Delaney sah sich hilflos um. Autos kamen die Cañonstraße herunter, in gleißendes Licht getaucht, andere fuhren hinauf, zu der Holzhandlung hundert Meter weiter rechts oder in die Seitenstraße dahinter, donnerten an ihm vorbei, als existierte er gar nicht. Eins nach dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher