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América

América

Titel: América
Autoren: T.C. Boyle
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nun sein Schicksal, dieses dreckige beschissene Pech, die Frau geschändet, das Baby blind, ein wahnsinniger Weißer mit Revolver, und als ob das noch nicht genug wäre, um einen unersättlichen Gott zufriedenzustellen: nein, sie mußten zu allem Überfluß noch wie die Ratten ersaufen.
    Unter Kontrolle zu bringen gab es da nichts, es war hoffnungslos. Da waren nur die irrwitzige Abwärtsfahrt und das Krachen der Felsen. Cándido klammerte sich an der Holzpalette fest, und América klammerte sich an ihn. Seine Fingerknöchel wurden geschunden und gebrochen, aber er hielt weiter fest, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Und dann waren sie im Bett des großen Bachs, im Topanga Creek, und der Berg lag hinter ihnen. Aber das war nicht der Bach, von dem Cándido getrunken, in dem er gebadet und an dem er all diese qualvollen Monate der Dürre hindurch geschlafen hatte - es war nicht einmal der Bach, den er am selben Tag unter der Brücke hatte dahintosen sehen. Es war ein Strom, ein reißender Strom, der hoch über den Brücken und Straßen und allem anderen hinwegschoß. Es gab kein Entkommen. Die Palette wirbelte und bockte, und schließlich warf sie ihn ab.
    Sie prallten mit etwas zusammen, etwas so Großem, daß es unbeweglich war, und während Cándido das Floß losließ, ließ América ihn los; plötzlich war er im Wasser und hatte nichts mehr zum Festhalten, und das Wasser war kalt wie der Tod. Er ging unter, und es fühlte sich an, als drückte ihn eine riesige Faust nieder, zerquetschte ihn, aber er strampelte dagegen an, krachte unter Wasser gegen einen Baumstamm, dann gegen einen scharfkantigen Felsen, und irgendwie war er wieder an der Oberfläche. »América!« schrie er. »América!« Im nächsten Augenblick packte es ihn erneut, das wütende rasende Wasser, schlug ihm in die Nase und preßte sich in seine Kehle, und die Strömung ließ ihn über ein hartes Waschbrett rattern, Höcker auf Höcker aus unnachgiebigem Stein, und er sah seine Mutter vor sich, wie sie die Wäsche in einem Schwall von Schaum auf den Steinen ausschlug, er mußte damals drei Jahre alt gewesen sein, und er wußte, daß er sterben würde - Geh zum Teufel, Sohn -, und er schrie von neuem auf.
    Dann hörte er eine Stimme neben sich, direkt an seinem Ohr - »Cándido!« -, und es war seine Frau, es war América, die ihm ihre Hand entgegenstreckte. Das Wasser brodelte und zerrte an ihm, warf ihn vorwärts, nur um ihn gleich wieder zurückzuschleudern, und wo war sie jetzt? Da, sie klammerte sich an die glatte, harte Oberfläche dieses Waschbretts, das verschwommen aus dem Strudel aufragte. Er kämpfte sich mit aller Macht vorwärts, und plötzlich spie ihn das Wasser seiner Frau in die Arme.
    Er war gerettet. Er war am Leben. Es gab keinen Himmel, keine Erde, und der Wind hämmerte mit Schrotkugeln aus Regen auf sie ein, und das Wasser toste zu seinen Füßen, aber er war am Leben, er atmete und lag in den Armen seiner Frau, seiner schmalen, schönen, bibbernden jungen Frau. Es dauerte einen Moment, in dem er den buckligen Stein unter sich mit tauben, blutenden Fingern ertastete, bis er begriff, wo sie waren - gerettet hatte sie die amerikanische Post, das hier war das Schindeldach des Gebäudes, und weiter unter ihnen war die scharfe Biegung des Bachbetts, das zu der überschwemmten Brücke und der Schlucht führte. »América!« war alles, was er herausbrachte, er keuchte es, stöhnte es, wieder und immer wieder. Er bekam einen Hustenanfall und erbrach das cocido, säuerlich und dünnflüssig, und er fühlte sich, als würde er langsam erdrosselt. »Ist dir was passiert?« röchelte er. »Bist du verletzt?«
    Sie weinte. Ihr Körper und seiner waren eins, und ihre Weinkrämpfe schüttelten ihn, bis er selbst weinte oder beinahe weinte. Aber Männer weinten nicht, Männer hielten durch; sie arbeiteten für drei Dollar am Tag in der Gerberei, bis ihnen die Fingernägel ausfielen; sie schluckten Benzin und spien an den Straßenecken Feuer für die Touristen; sie schufteten, bis keine Kraft mehr in ihnen war. »Das Baby«, japste er, und er weinte nicht, nein, er weinte nicht. »Wo ist das Baby?«
    Sie antwortete nicht, und er fühlte die Kälte in seine Adern sickern, eine solche Kälte und Müdigkeit, wie er sie noch nie verspürt hatte. Das dunkle Wasser war rings um ihn herum, Wasser, soweit das Auge reichte, und er fragte sich, ob ihm je wieder warm werden würde. Über das Fluchen, über den Kummer war er hinaus, er war bis ins
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