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América

América

Titel: América
Autoren: T.C. Boyle
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war er ein gedrungener Typ, die breiten Schultern zog er stets etwas nach vorn, so daß es aussah, als wäre er ständig in Gefahr, vornüber aufs Gesicht zu fallen, aber er war gut in Form und auf alles gefaßt. Was ihn so alarmierte, war die plötzliche Gewißheit, daß jemand die ganze Sache inszeniert hatte - von solchen Tricks las man oft im Lokalteil: Banden, die Unfälle vortäuschten und dann arglose, gesetzestreue, hilfsbereite und vollkaskoversicherte Autofahrer ausraubten ... Allerdings: wo war die Bande? Auf dem steilen Pfad da unten? Kauerten sie hinter der Wegbiegung und warteten, daß er den ersten verhängnisvollen Schritt in die Büsche hinein und außer Sichtweite der Straße tat?
    Vielleicht hätte er den ganzen restlichen Nachmittag so spekuliert - das verschwundene Unfallopfer, ein Fall für die Akte X oder irgendein Horrorvideo -, wenn nicht plötzlich aus dem Gestrüpp direkt rechts von ihm ein leises Gemurmel an sein Ohr gedrungen wäre. Mehr als Gemurmel - es war ein tiefes, klagendes, gutturales Stöhnen, das ihm die Kehle zuschnürte, der Ausdruck der urtümlichsten, elementarsten Empfindung, die der Mensch kennt: Schmerz. Delaneys Blick wanderte von dem Einkaufswagen auf den Pfad und dann zu dem Strauch zu seiner Rechten, und da war er, der Mann mit den roten Augen und dem ergrauenden Schnurrbart, der tollkühne Selbstmörder, das Stehaufmännchen, das urplötzlich vor seiner Stoßstange aufgetaucht war und ihm den Nachmittag ruiniert hatte. Der Kerl lag auf dem Rücken, alle Glieder schlaff von sich gestreckt, als hätte ein trotziges kleines Mädchen seine Puppe in die Ecke gepfeffert. Ein blutiges Rinnsal, etwa fingerdick, lief ihm aus dem Mundwinkel, und Delaney konnte sich nicht erinnern, je zuvor ein so leuchtendes Rot gesehen zu haben. Zwei Augen, in denen dumpfer Schmerz lag, sahen ihn an, hielten ihn mit aller Macht fest.
    »Ist Ihnen ... ist Ihnen was passiert?« hörte sich Delaney sagen.
    Der Mann zuckte zusammen und versuchte den Kopf zu bewegen. Delaney sah jetzt, daß seine linke Gesichtshälfte - die bisher abgewandte Seite - ganz zerschrammt war, aufgeschürft und blutig, ein gehäutetes Stück Fleisch. Dann bemerkte er den linken Arm des Mannes, den zerfetzten Hemdsärmel und die Haut darunter, die mit Blut und kleinen Steinchen und Laub verklebt war, sah die blutverschmierte Hand, die eine zerknitterte Papiertüte gegen die Brust drückte. Glasscherben bohrten sich durch das Papier wie Klauen, und das khakifarbene Hemd des Mannes war getränkt von Orangenlimonade; eine Plastikpackung, in der Delaney einen Stapel Fertigtortillas (»como hechas a mano«) erkannte, lag zwischen den Beinen des Mannes, als wäre sie dort angeklebt.
    »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« flüsterte Delaney und gestikulierte sinnlos. Es war ihm nicht klar, ob er ihm die Hand entgegenstrecken sollte oder nicht. Durfte man den Mann bewegen? Schaffte er das überhaupt? »Ich meine, es tut mir leid, ich ... Warum sind Sie aber auch auf die Straße gerannt? Was ist bloß in Sie gefahren? Haben Sie mich denn nicht gesehen?«
    Fliegen surrten durch die Luft. Unter ihnen erstreckte sich der Cañyon, chaotisch verstreute Felsbrocken und verwittertes Geröll, ein Krieg zwischen Licht und Schatten. Der Mann versuchte sich aufzurappeln. Er strampelte mit den Beinen wie ein auf ein Brett gepinntes Insekt, dann wurde sein Blick wieder klar, und er mühte sich ächzend in eine sitzende Haltung hoch. Dann sagte er etwas in einer fremden Sprache, in seiner Kehle gurgelte und rasselte es, und Delaney wußte nicht, was er tun sollte.
    Französisch war es nicht, das stand fest. Und Norwegisch auch nicht. Die Vereinigten Staaten hatten keine dreitausend Kilometer lange Grenze mit Frankreich - ebensowenig wie mit Norwegen. Der Mann war Mexikaner, ein Latino, das war er, und er sprach Spanisch, einen heißen, wilden Trommelwirbel von Sprache, zu der Delaneys vier Jahre High-School-Französisch ihm nur wenig Zugang verliehen. »Docteur?« versuchte er es.
    Die Miene des Mannes war völlig ausdruckslos, Blut tröpfelte ihm stetig aus dem Mundwinkel, vom Schnurrbart weitgehend verdeckt. Er war nicht so jung, wie Delaney zuerst geglaubt hatte, und auch nicht so schmächtig - sein Hemd spannte sich an den Schultern, und rund um die Körpermitte, gleich über der Tortillapackung, zeigte sich ein Anflug von Bauch. Auch das Haar hatte graue Strähnen. Er zog eine Grimasse und atmete hörbar ein, wobei er eine Reihe
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