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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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1

    Wie er aus dem Mund stinkt. Ekelhaft.
    Aber dem Himmel sei Dank: Er macht die Augen auf. Er hat's überlebt. Wär er abgekratzt ... Das hätt mir gerade noch gefehlt, jetzt, wo der Chef nicht da ist und ich hier ganz alleine bin. Aber wenn er einen Gehirnschaden behält? ... Egal. Darum sollen sich dann andere kümmern. Ich hab ihn heute durchbekommen, nur das zählt ... Wie spät ist es eigentlich? Oh, gleich vier. Um fünf macht die Werkstatt zu. Wenn ich den Wagen heute nicht hinbring, kann ich mir den Wochenendausflug mit Sandra abschminken ...
     

    Das waren die ersten Gedanken eines anderen Menschen, die in mich eindrangen.
    Zu jenem Zeitpunkt aber wusste ich überhaupt nicht, was mit mir geschah. Ich nahm nur wahr, dass ich in einem Bett lag, Schmerzen im ganzen Körper hatte, besonders in den Ohren, am Hinterkopf und im rechten Bein - und mir war schrecklich warm. Mit größter Mühe versuchte ich, meine Augen zu öffnen, brachte allerdings nur ein leichtes Blinzeln zustande. Das aber genügte, um einen Mann in einem weißen Kittel zu erkennen, der sich über mich gebeugt hatte. Seine Augen waren groß und dunkelbraun, sein Gesicht eher grob geschnitten, leicht gebräunt und mit kleinen roten Pickeln übersät. Die Lippen, wulstig und aufgesprungen, glänzten etwas, so, als wären sie feucht oder mit einer dünnen Fettschicht überzogen. Und das Sonderbare war: Offenbar sprach der Mann - aber seine Lippen bewegten sich nicht im Geringsten, sein Mund war ganz eindeutig geschlossen. Diese Beobachtung verwirrte mich derart, dass ich meine ganze Kraft zusammennahm, um meine Augen vollends zu öffnen. Was mir dann auch gelang. Und genau in diesem Moment sagte der Mann über mir: »Herr Stahl, atmen Sie tief durch. Sie haben es geschafft. Sie sind ein sehr tapferer Patient. Haben Sie Schmerzen? Hören Sie mich? Hallo, Herr Stahl, können Sie mich sehen?«
    Ich spürte seine Hand auf meiner rechten Hand, und zu meiner erneuten Verblüffung bewegten sich jetzt seine Lippen, während er sprach. Ich schwieg und starrte ihn nur an. Und dann schwieg auch er und starrte mich ebenfalls an. Eine ganze Weile. Bis er sehr laut sagte: »Herr Stahl, hallo, können Sie mich hören? Nicken Sie ganz einfach, wenn Sie mich verstanden haben. Spüren Sie meine Hand?« Dabei drückte er ein paarmal kräftig meinen Handrücken zusammen, so dass es fast wehtat. Wartete einen Moment - und drückte abermals. »Spüren Sie die Hand?«, fragte er wieder, jetzt aber mit deutlich leiserer Stimme. Dann ließ er von mir ab, wich auch mit seinem Gesicht ein wenig zurück, sah mich dabei aber fortwährend an. Mit sehr ernster Miene.
     

    Ach, du Scheiße ... Nun hat er doch einen Schaden. So ein Dreck. Er reagiert nicht. Die Werkstatt kann ich vergessen. Jetzt muss ich irgendwas unternehmen. Scheiße ... und Sandra ...
     

    Ich glaubte, verrückt geworden zu sein. Denn diese Sätze vernahm ich ganz klar - aber der Mund des über mich gebeugten Mannes war wieder geschlossen, die Lippen beinahe zusammengepresst. Und diesmal fiel mir auf, dass sich die Tonlage, in der er sprach, erheblich verändert hatte. Daran gab es gar keinen Zweifel. Zuvor hatte seine Stimme recht In ich geklungen, jetzt aber war sie tiefer, auch stärker zurückgenommen als vorher, wie aus der Ferne gesprochen, und jedes Wort hallte etwas nach.
    Meine Gedanken überschlugen sich: Wo bin ich? Offensichtlich in einem Krankenhaus. Der Mann ist ein Arzt, oder? Aber warum bin ich hier? Was ist geschehen? Hatte ich einen Unfall? Oder einen Zusammenbruch? Gar einen Schlaganfall? Oder träume ich alles nur? Was für ein Tag ist heute? Und der Arzt spricht von einem Schaden, einem Gehirnschaden. Habe ich einen Gehirnschaden? O mein Gott! Und wer ist Sandra? Warum erzählt mir der Arzt, dass er in die Autowerkstatt will? Und dass ich Mundgeruch habe? Wie peinlich! Ich achte doch immer so penibel auf meine Mundhygiene. Ich muss unbedingt etwas trinken oder mir den Mund ausspülen. Warum ist mir so warm? Weiß ich meinen Namen? Ja, Arne ... Arne Stahl.
     

    »Was ist passiert? Wo bin ich?«, flüsterte ich mit heiserer Stimme. Die Kraft, laut und deutlich zu sprechen, hatte ich nicht.
     

    Donnerscheiß. Er spricht.
     

    Der Arzt sagt »Donnerscheiß« zu mir? Dachte ich. Aber wieder war sein Mund geschlossen gewesen. Und noch bevor ich weiter darüber nachgrübeln konnte, sagte er, diesmal wieder mit heller und klarer Stimme: »Sie hatten gestern einen schweren Unfall, Herr
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