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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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Stahl. Sie wurden auf freiem Feld von einem Blitz getroffen. Sie haben riesiges Glück gehabt, Mein Name ist Dr. Bauer, und Sie sind hier im St. Katharinen Hospital.«
    Diesmal bewegte er beim Sprechen ganz normal den Mund, was mich beruhigte und die sonderbaren Vorkommnisse von vorhin zunächst vergessen ließ. Ich atmete einige Male tief durch, versuchte mich etwas aufzurichten, was jedoch misslang, und fragte den Arzt schließlich: »Weiß meine Frau Bescheid? Weiß sie, wo ich bin?«
    »Ja, sie wurde direkt nach dem Unfall benachrichtigt. Zum Glück hatten Sie Ihren Personalausweis dabei. Sie war bis vor einer halben Stunde hier und wird am Abend wiederkommen.«
    »Wie spät ist es?«
    »Gleich zehn nach vier. Können Sie mich ganz klar sehen und hören?«
    »Ja ... aber irgendwie tut mir alles weh.«
    »Das ist normal in Ihrem Zustand. Spüren Sie Ihre Beine und Hände?«
    »Ja.«
    »Können Sie alles bewegen?«
    »Ja.«
    »Sehr gut. Versuchen Sie Ihren Oberkörper aufzurichten. Ich helfe Ihnen dabei.«
    Und tatsächlich, jetzt klappte es.
     

    Hammer, das wird den Chef beeindrucken. So einen Fall hat noch keiner gehabt Jetzt bin ich hier der Star. Wenn ich mich beeile, schaff ich die Werkstatt doch noch. Eigentlich könnt ich die Inspektion auch gleich machen lassen.
     

    »Wie meinen Sie das?«, fragte ich irritiert den Arzt.
    »Wie meine ich was?«, erwiderte er. »Ich habe nichts gesagt ...«
    »Aber ...«
    Ich war mir absolut sicher, dass er gerade von einer »Inspektion« gesprochen hatte. Obgleich sein Mund geschlossen gewesen war und mich seine Stimme wiederum sehr befremdet hatte. Während seine Gegenfrage »Wie meine ich was ?« durchaus normal geklungen hatte und sein Mund beim Sprechen geöffnet gewesen war.
    » ... ach, nichts«, sagte ich nach kurzem Zögern. Ich wurde von meiner Intuition gelenkt, die es für klüger hielt, zu schweigen, als sich auf einen weiteren Dialog einzulassen. Denn obwohl ich mich noch ausgesprochen benommen fühlte und die gesamte Lage keineswegs richtig einschätzen konnte, verspürte ich in diesem Moment zum ersten Mal den Hauch einer Ahnung, was mit mir geschehen war. Daneben überwog aber das mächtige Gefühl, der erlittene Unfall habe mein Wahrnehmungsvermögen so sehr durcheinander geschüttelt, dass ich ganz einfach noch nicht recht bei Sinnen war und deshalb merkwürdige Worte aus einem deutlich geschlossenen Munde hörte. Schweigen schien mir auch deshalb sehr angebracht zu sein, da ich dem Arzt keinesfalls als geistig verwirrt erscheinen wollte. Wer weiß, welche Konsequenzen das gehabt hätte. Also beschloss ich, nur zu reden, das heißt zu antworten, wenn er mir direkt eine Frage stellen würde. Alles Weitere könnte ich dann ja später mit Anna, meiner Frau, besprechen.
    »Nun gut«, sagte der Arzt, »möchten Sie etwas trinken?«
    »Sehr gerne!«
    Er reichte mir eine große Tasse Tee. »Können Sie es alleine?«
    »Ja, vielen Dank!« Ich trank mit Genuss den lauwarmen Pfefferminztee, leerte die Tasse in einem Zug - und spürte, dass meine Kräfte wiederkehrten und auch meine Sinne etwas klarer wurden.
    »Das hat gut getan, ich hatte einen riesigen Durst.«
    »Na prima. Jetzt kommen Sie erst einmal in Ruhe zu sich. Mein Kollege wird später nach Ihnen schauen, und wenn irgendetwas ist - hier mit diesem Schalter können Sie die Schwestern alarmieren. Ich werde mich morgen wieder um Sie kümmern.«
    Er gab mir die Hand, verabschiedete sich und ging schnellen Schrittes aus meinem Krankenzimmer.

2

    Etwa vierundzwanzig Stunden hatte ich also in tiefer Bewusstlosigkeit gelegen. An die Einzelheiten des tags zuvor geschehenen Unglücks kann ich mich bis heute nicht erinnern. Es war ein grauschwüler Sommernachmittag gewesen. Das weiß ich noch genau. Ich hatte mir frei genommen und verbrachte zunächst ein paar Stunden im Garten unseres neuen Hauses. Da gab es viel zu tun: Gras säen, Ziersträucher einpflanzen, Beete umgraben, den Zaun streichen und so weiter. Irgendwann aber hatte ich keine Lust mehr zu arbeiten und überlegte, wie ich den restlichen Nachmittag gestalten sollte. Anna würde erst gegen achtzehn Uhr von der Arbeit kommen. Also blieben mir noch etwa drei Stunden. Ich war unentschlossen und auch in eher bedrückter Stimmung. Zu jener Zeit verlief mein Leben in vollkommen geregelten Bahnen, was mir aber immer mehr zu schaffen machte. Alles war geordnet, geklärt und absehbar. Ich hatte eine liebevolle Frau, ein Haus, ein ansehnliches Auto - und mit
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