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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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nichts, und meine inneren Augen sahen nichts !
    Vielleicht funktioniert das Gedankenlesen bei einem Schlafenden nicht, dachte ich, oder er ist gerade traumlos.
    In diesem Moment öffnete Boris seine Augen.
    »Was ist los?«, fragte er in ruhigem Ton. Er schien weder erschrocken noch überrascht zu sein, obwohl beides nur allzu verständlich gewesen wäre.
    »Entschuldige«, sagte ich, »ich muss jetzt sofort etwas ausprobieren, bitte steh auf, ich erkläre dir alles später. Bitte komm!«
    Mein Herz raste.
    Er musterte mich einen Augenblick, sprang dann aber mit einem Satz aus dem Bett, ich packte ihn am Arm und zog ihn in den Wohnraum.
    »Setz dich hier an den Esstisch«, sagte ich, zündete hastig eine Kerze an und nahm genau gegenüber von ihm Platz. Uns trennten maximal fünfzig Zentimeter. Der Schein des Kerzenlichtes flackerte durch den Raum. Ich legte meine Hände auf seine Unterarme, beugte meinen Oberkörper über die schmale Tischplatte zu ihm hin und sagte: »Auch wenn du mich jetzt für verrückt hältst, bitte mach alles genau so, wie ich es dir sage, bitte stell keine Fragen, folge genau meinen Anweisungen.«
    »Okay, was soll ich tun?«
    »Komm, beuge dich zu mir her. Ich will, dass sich unsere Köpfe berühren, Stirn an Stirn - und schließe die Augen! Ja, genau so. Und jetzt denke bitte etwas, irgendetwas.«
    »Wie? Denken? Was soll ich denken?«
    »Ganz egal. Denke einfach einen belanglosen Satz!«
    Auch ich hatte meine Augen geschlossen und war nun hoch konzentriert.
     

    Ich wartete.
    »Bitte denke irgendetwas!«
    »Ja, das mache ich ja gerade!«
     

    Ich hörte nichts. Und drückte meine Stirn noch fester an seine.
    Ich hörte nichts.
    »Denke an Ann-Katrin! Denke an ihren ersten Schultag, denke daran, was ihr letztes Jahr Weihnachten am Heiligen Abend zusammen gemacht habt!«
     

    Wieder wartete ich. Aber ich hörte nichts. Ich sah nichts. Ich hatte seine Unterarme mittlerweile so fest im Griff, als gelte es, seine Flucht zu verhindern.
     

    »Bitte, Boris, denke folgenden Satz: Ich liebe meine Tochter!«
     

    Ich hörte nichts.
     

    »Denkst du diesen Satz?«
    »Ja, immerzu!«
     

    Ich hörte nichts - in meinem Inneren. Aber zum ersten Mal seit über zwei Jahren glaubte ich mit meinem rechten Ohr wieder etwas wahrgenommen zu haben. Das war allerdings im Moment nicht so wichtig.
     

    »Denke: Ich liebe meine Mutter!«
     

    Ich hörte nichts.
     

    »Denke: Ich liebe meine Mutter!«, befahl ich ihm beinahe.
    »He, das mache ich doch die ganze Zeit!«
    Und diesmal war ich mir fast sicher, dass ich seine Antwort mit meinen beiden Ohren gehört hatte. - In meinem Gehirn aber herrschte Stille, und meine inneren Augen blickten ins Leere.
     

    »Erinnere dich an den Zorn und den Hass, den du damals für Dirk empfunden hast!«
     

    Ich sah nichts.
     

    »Erinnere dich an deine Freude, als dir klar war, dass wir Freunde sein würden!«
     

    Ich sah nichts.
     

    »Erinnere dich an das Glück, als du deine kleine Tochter zum ersten Mal in deinen Armen hieltest!«
     

    Ich sah nichts.
     

    »Bitte, Boris, denk noch einen Satz! Nur noch einen! Denke: Das Leben ist schön!«
     

    Wieder hörte ich nichts.
     

    »Denkst du ihn wirklich?«
    »Pausenlos!«
     

    Und so saßen wir ein paar Minuten ruhig und ohne Bewegung da. Ich vernahm nichts. Rein gar nichts aus seinem Inneren. Dafür hörte ich dann tatsächlich mit meinen beiden Ohren, wie Boris mich fragte: »Soll ich noch etwas denken?«
     

    Ich ließ von ihm ab, lehnte mich erschöpft zurück, war zu überhaupt keinem Wort mehr fähig und brach in Tränen aus.
    Noch nie in meinem Leben, nicht einmal damals, als meine Eltern zu Tode gekommen waren, hatte ich so inbrünstig geweint.

EPILOG

    Die Liebe hatte den Fluch zerstört. So muss es gewesen sein. Je stärker die brüderliche Liebe zu meinem Freund Boris geworden war, desto weniger Macht hatte der Fluch über mich gehabt.
    Eine andere Erklärung gab es für mich nicht.
     

    Nun war die Stimme gänzlich verstummt, und ich hatte das Gefühl, wieder ein ganz normaler Mensch zu sein. Zwar beobachtete ich mich noch lange mit Argusaugen, aber kein fremder Gedanke und kein fremdes Gefühl drangen mehr in mich ein. Auch mein rechtes Ohr war wieder intakt, genauso wie vor dem Blitzschlag.
     

    Noch drei Monate blieb ich in Lappland, dann machte ich mich auf die Reise in Richtung Österreich. Ich wollte mich zunächst in Graz niederlassen und mir dort eine neue Existenz aufbauen. Konkrete
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