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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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besorgt.
    »Kann ich bei dir hier im Haus schlafen?«, fragte er mich. »Ich habe kein Zelt dabei, und es wäre mittlerweile ja auch zu kalt draußen.«
    Ich spürte einen Kloß im Hals - und sagte: »Ja!«
     

    Am Nachmittag gingen wir, trotz des nicht gerade einladenden Wetters, hinaus und unternahmen eine kleine Wanderung. Es war alles wie im Sommer. Wäre da bloß nicht die schwere Last auf meinem Gewissen gewesen. Wenn ich ihm von der Stimme erzählen würde, könnten wir nie wieder unbefangen miteinander umgehen. Sollte er überhaupt noch mit mir befreundet sein wollen.
     

    Am Abend zündete ich zum ersten Mal in diesem Herbst meinen Kamin an. Boris hatte zuvor etwas Holz gehackt, und nun saßen wir mit einer Flasche Rotwein vor dem lodernden Feuer.
     

    »Ich muss dir etwas sagen, was ich nicht schreiben wollte«, begann er.
    Ich drehte meinen Sessel etwas mehr in seine Richtung und schaute ihn fragend an.
    »Wenn es schicksalhafte Begegnungen gibt, dann war unser Zusammentreffen bei Tuuli vor drei Monaten hundertprozentig eine. Jedenfalls für mich. Seitdem ist alles anders. Hätten wir uns nicht kennengelernt, ich glaube, ich wäre an meiner Vergangenheit zerbrochen. Ich stand kurz davor. Aber jetzt bin ich fest entschlossen, mein Leben wieder klar zu regeln. Ich werde für meine Fehler geradestehen.«
     

    Er machte eine kleine Pause.
     

    »Kurz vor meiner Abreise hierher habe ich mich in Graz bei der Polizei gemeldet - und alles von damals erzählt. Nun werden die Dinge ihren Lauf nehmen.«
    Mir stockte der Atem.
    »Du warst bei der Polizei?«
    »Ja, und ich habe auch mit Ann-Katrin und mit meiner Mutter gesprochen. Sie wissen jetzt beide, wie ernst die Lage ist. Aber ich fühle mich gut. Wenn auch vielleicht schwere Zeiten vor mir liegen. Aber da muss ich nun mal durch. Nur so werde ich irgendwann wieder ein aufrichtiges Leben führen können.«
    Er hielt kurz inne, schaute zunächst nach unten, dann jedoch direkt in meine Augen.
    »Ohne dich, mein Freund, hätte ich die Entscheidung nicht getroffen.«
     

    Ich weiß nicht, ob ich kreidebleich oder puterrot wurde.
    Aber ich weiß noch ganz genau, was ich dachte: Arne, du liebst einen Mann!
     

    Und musste dabei ein wenig schmunzeln. Denn ich war ja nicht von einer Sekunde auf die andere bisexuell oder schwul geworden. Nein, das nicht. Um Sexualität, um Körperlichkeit ging es hier überhaupt nicht. Ich verspürte aber eine so tiefe platonische Zuneigung zu meinem Freund, dass es dafür nur noch das Wort »Liebe« gab. Was mich glücklich machte, denn auch Boris empfand ja so. Während unserer Bootsfahrt hatte er es in Gedanken formuliert: Er liebte mich wie einen Bruder.
     

    Und ohne zu überlegen, warf ich meine Vorsichtsmaßnahmen über Bord, sprang auf, machte einen Satz hin zu seinem Sessel, setzte mich auf die Lehne und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
     

    He, mi --- t --- sst
     

    In dieser Sekunde fiel mir wieder ein, dass die Stimme am Morgen höchst seltsam geklungen hatte. Genau wie jetzt. Diesmal allerdings schreckte ich nicht zurück. Ich blieb bewusst in der Nähe seines Kopfes, ich schaute ihn an, was er sicherlich etwas befremdlich fand, und horchte gezielt nach der Stimme, ich suchte sie geradezu in meinem Gehirn. Aber nichts! Alles stumm. Alles normal. Und nirgendwo vor meinen inneren Augen eine Farberscheinung. Nichts. Alles normal.
    »Was ist?«, fragte er.
    »Ach ... nichts.«
    Ich ging zurück zu meinem Sessel und sagte: »Ich habe großen Respekt vor deiner Entscheidung, Boris. Sei dir gewiss, ich werde immer für dich da sein. Und solltest du ins Gefängnis müssen, ich werde nach Österreich kommen und mich um deine Tochter und deine Mutter kümmern.«
    Er schwieg und nickte.
    »Danke! Aber lass uns jetzt noch ein paar gute Tage hier haben.«
    »Es wundert mich, dass die Polizei dich noch hierher hat reisen lassen. Wissen die überhaupt Bescheid?«
    »Klar. Alles abgesegnet.«

30

    Als ich am Abend in meinem Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Ich war zu aufgewühlt. Über mir, auf der oberen Liegefläche meines Etagenbettes, schnarchte Boris, und ich dachte über die Geschehnisse des Tages nach, über seine Entscheidung, über meinen Gewissenskonflikt - und über die Stimme. Warum hatte sie so merkwürdig geklungen? Und erst jetzt kam mir etwas in den Sinn, was ich schon wieder fast vergessen hatte. Vor ungefähr einer Woche war ich in dem kleinen Lebensmittelladen des Ortes gewesen, um ein paar Einkäufe zu
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