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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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Vertrauensbruch also, eine fürchterliche Lüge. Und so saß Boris von einem Tag auf den anderen mit fünfhunderttausend Euro Schulden im Nacken allein in der Firma. Eine Katastrophe. Denn ohne seinen Partner und dessen Geld war er aufgeschmissen. Er stand vor dem finanziellen Ruin, vor dem Offenbarungseid.
    Was dann allerdings zwei Tage später geschah, spottet jeder Beschreibung. Als Boris an diesem Morgen aufwachte, wunderte er sich, dass Tanja nicht mehr neben ihm im Bett lag. In der Regel stand sie immer nach ihm auf. Und da Ann-Katrin für ein paar Tage bei der Oma untergebracht war, hätte Tanja besonders lange schlafen können, was sie eigentlich auch vorgehabt hatte. Boris rief nach ihr, keine Antwort, er lief durch die ganze Wohnung, konnte sie nirgendwo finden, rannte in den Keller, auch dort war sie nicht, entdeckte schließlich auf dem Küchentisch einen schäbigen Zettel - und auf dem stand:
    Ich liebe Dirk.
    Wir sind zusammen. Ich muss zu ihm.
    Sag Ann-Katrin, dass ich sie liebhabe. So sehr! Und für immer!
    Aber ich komme nicht mehr zurück. Es tut mir leid.
    Suche uns nicht! T.
     

    Boris war aschfahl geworden. Er schaute mich an, schwieg und bestellte noch einmal Wodka. Was mir gar nicht recht war, denn ich wollte mit klarem Kopf seine Geschichte hören und auch einordnen. Und so nahm ich nur einen kleinen Schluck aus meinem Glas. Er allerdings schüttete den Wodka binnen Sekunden hinunter.
    »So, mein Freund«, sagte er, machte eine kurze Pause, blickte mir dabei ernst und fest in die Augen und fuhr dann fort: »Was ich dir jetzt erzähle, weiß sonst niemand auf der Welt.«
     

    Mein Pulsschlag beschleunigte sich - und wahrscheinlich war ich in diesem Moment ebenso aufgeregt wie er.
     

    Nachdem Tanja damals abgehauen war, ließ Boris ein halbes Jahr ins Land ziehen. Er wickelte die Firma ab, kümmerte sich um Ann-Katrin und lebte zurückgezogen. Von Woche zu Woche aber wurde ihm das Ausmaß seiner Lebenskatastrophe deutlicher, und der Zorn auf Tanja und besonders auf Dirk überschattete bald alles. Er begann zu recherchieren. In alle Richtungen. Besessen ging er jeder Idee, jeder Spur, jedem Hinweis nach. Er hatte nur noch ein Zieh Er wollte Dirk und Tanja finden! Er wollte die beiden zur Rede stellen! Er wollte alle Hintergründe wissen - und verstehen, was passiert war und warum. Vor allem aber wollte er Dirk einen Denkzettel verpassen. Nach zwei Monaten hatte er eine Spur. Sie führte zunächst in die USA, dann aber wieder zurück nach Europa, nach Italien, in die Schweiz und schließlich an den Bodensee.
    Am achtundzwanzigsten Dezember des Katastrophenjahres stand Boris vor Dirk. Er hatte ihn unweit von Basel in einem deutschen Autobahn-Motel ausfindig gemacht. Tanja war nicht anwesend. Schon nach wenigen Minuten kam es zu einem lautstarken Streit. Die Männer brüllten sich an - und dann schlug Boris zu. Dirks Erklärungsversuche, seine Lügen und Schönfärbereien hatten Boris noch wütender gemacht, als er ohnehin schon gewesen war. Dirk, der Boris' Stärke nur wenig entgegenzusetzen hatte, wehrte sich, so gut er konnte. Dabei beschimpften sie sich gegenseitig auf das Übelste. Und dann passierte das Unglück: Boris versetzte Dirk einen so heftigen Faustschlag gegen den Kopf, dass Dirk strauchelte, zu Boden stürzte - und liegen blieb.
    Schwer atmend. Aus seiner Nase quoll Blut, die Augen aber waren geöffnet. Boris stand wie gelähmt vor Dirk, spürte, dass auch seine Nase heftig blutete, wartete noch einen kurzen Augenblick und verließ dann aufgebracht das Zimmer.
    Am übernächsten Tag konnte man in den Zeitungen lesen, dass Dirk in dem Motel tot aufgefunden worden war - offenbar an seinem eigenen Blut erstickt.
    Hätte Boris, wenn auch nur anonym, sofort einen Krankenwagen alarmiert, Dirks Leben wäre wohl zu retten gewesen. Allerdings war Boris beim Verlassen des Motels in einer völlig desolaten Stimmung gewesen, unfähig, einen klaren Gedanken zufassen. Er hatte Dirk in der Annahme zurückgelassen, ihn nicht ernstlich verletzt zu haben. Dirk war dann vermutlich bewusstlos geworden, und damit hatte Boris nicht gerechnet. Schon gar nicht mit der fatalen Verkettung der Ereignisse ...
     

    Boris saß zusammengesunken vor mir, nickte und schwieg. Er mied meinen Blick. Seine auf dem Tisch liegenden Hände zitterten etwas. Und da fiel mir zum ersten Mal auf, dass er nicht die Hände eines Achtunddreißigjährigen hatte, sondern die eines alten Mannes.
     

    »Jetzt weißt du alles«,
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