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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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Gewaltanwendung ums Leben gekommen war? Hatte Boris, vielleicht aus Panik und Angst, die Presseberichte zu dem Fall damals nicht weiterverfolgt? Aber war wiederum das Ergebnis einer gerichtsmedizinischen Untersuchung wirklich relevant für meine Gesamtbeurteilung der Vorgänge? Ich hatte keine Antworten parat.
     

    Mit dem Thema »Selbstjustiz« war ich während meiner vielen Berufsjahre als Journalist immer wieder konfrontiert worden. Oft hatte ich im ersten Moment ein gewisses Verständnis für die Rächer empfunden, das muss ich gestehen, meine grundsätzliche Haltung allerdings war glasklar:
    Ich lehnte jede Form des eigenmächtigen Strafvollzuges ab. Schon die kleinste Ausnahme würde einem Schritt zurück in die Barbarei gleichkommen. Über all meinen Betrachtungen aber stand ein Satz:
    Er ist dein Freund.
    Und ich glaubte ihm. Ich war sicher, dass er mir die Dinge genau so geschildert hatte, wie sie ihm in Erinnerung geblieben waren. Zudem zeigte er tiefe Reue. Mein unbedingtes Vertrauen in seine Worte konnte ich mir rational nicht erklären. Aber mein Herz sprach für ihn - und nur darauf kam es mir an.
     

    Ich war froh, dass ein Aspekt völlig klar war: Es bestand keine Wiederholungsgefahr. Boris würde sich in seinem Leben nie wieder so verhalten. Dennoch ging es um den Tod eines Menschen, um Schuld - und eben um eine Freundschaft. Ich musste und wollte zu einer unmissverständlichen Haltung kommen. Bald.
    Das war ich Boris schuldig - und auch mir selbst.

27
    Schon drei Tage nach unserem Abschied erreichte mich ein Brief aus Graz. Mit nervösen Händen öffnete ich ihn. Es war der wohl kürzeste Brief, den ich je bekommen habe. Boris schrieb (ohne Anrede):
     
    Wie denkst Du über mich?
    Was soll ich tun?
    Können wir Freunde bleiben?
     

    Er war mir mit seinem Brief zuvorgekommen. Denn auch ich wollte ihm schreiben. Weil mein Grübeln und inneres Ringen ein Ende gefunden hatten. Ich war zu einer Meinung gelangt. Ich hatte eine klare Position bezogen.
    Und so setzte ich mich sofort an meinen Tisch und antwortete auf seine drei Fragen.
    Ebenfalls ohne Anrede schrieb ich:
     

    Ich vertraue Dir vollkommen.
    Melde Dich bei der Polizei, das fände ich richtig.
    Aber auch wenn Du es nicht tust, will ich Dein Freund
    sein und bleiben. Es ist deine Entscheidung. Ich stelle
    keine Bedingungen.
     

    Schon eine Stunde später war mein kurzer Brief auf dem Weg nach Österreich. Ich hatte meinen Frieden wiedergefunden, und es ging mir gut. Mein Kopf war klar. Ich hatte mich für die Loyalität zu meinem Freund entschieden und war mit mir im Reinen. Über alles, was er mir erzählt hatte, wollte ich für immer schweigen.
    Das war meine unumstößliche Entscheidung.

28

    Nachdem ich den Brief abgeschickt hatte, wurde mir erst richtig bewusst, wie stark, ja beinahe innig meine Gefühle für Boris waren. Ich erschrak fast darüber. Wie lange hatte ich so etwas nicht mehr erlebt? Ich wusste es nicht. Oder konnte ich die tiefe freundschaftliche Zuneigung zu einem Mann mit dem Verliebtsein in eine Frau vergleichen? Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Eigentlich war ich während der Monate meines Exils in Lappland davon ausgegangen, dass ich für immer allein bleiben würde - und hatte mich fast schon damit arrangiert. Es ist kein Unglück, allein zu sein, wenn man den richtigen Weg gefunden hat. Aber natürlich ist es ein Glück, ein großes Glück, einen Freund zu gewinnen. Und so schwelgte ich eine Weile in diesem schönen neuen Gefühl. Bis sich mein Verstand wieder meldete und er mir erbarmungslos vor Augen führte, was ich in der letzten Zeit so beharrlich verdrängt hatte - nämlich meine »Gabe«, den Fluch, die Stimme. Ich war so sehr mit Boris beschäftigt gewesen, dass ich mich selbst darüber vergessen hatte. Wie sollte die Zukunft zwischen ihm und mir aussehen?
    Ich war ein Gedankenleser. Und davon wusste er nichts.
    Vielleicht käme er mich bald wieder besuchen? Vielleicht würde ich einen Besuch in Österreich machen? Das hatte ich mir schon überlegt. Aber dann? Ich würde ihm nicht ständig aus dem Weg gehen können. Situationen wie zuletzt auf dem Boot wären auf Dauer nicht zu vermeiden. Ich wollte ihn aber unter keinen Umständen noch einmal heimlich belauschen. Das hätte ich als Verrat an unserer Freundschaft empfunden. Allerdings konnte ich ihm auch schlecht die Wahrheit sagen. Obgleich, das wurde mir erst jetzt schlagartig klar, er mir sein Geheimnis ja auch anvertraut hatte. War
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