Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
Vom Netzwerk:
Wie sollte ich seine Geschichte bewerten? Was empfand ich nach all dem Gehörten für diesen Mann? Ich konnte mir im Moment darauf keine klaren Antworten geben. Meine Gefühle fuhren rückwärts Achterbahn. Der Fall war kompliziert. Er hatte sich mir gegenüber geöffnet. Das musste ich ihm hoch anrechnen. Es war eine große Vertrauensbekundung. Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet. Dirk aber war tot. Hätte Boris einen Krankenwagen gerufen, Dirk würde vermutlich noch heute leben. Hätte Boris ihn nicht angegriffen, es wäre wohl nichts Schlimmes passiert. Aber vor allem: Hätte Boris ihn erst gar nicht aufgesucht, das ganze Unglück wäre zu vermeiden gewesen. Er aber hatte sich von seinem Hass und seinen Rachegefühlen leiten lassen. Er hatte sich vorgenommen, Dirk zu verprügeln - und war bewusst alle damit verbundenen Risiken eingegangen. Ein schweres Vergehen, bei allem Verständnis für Boris' Zorn und Verzweiflung. Und dann war da noch die ganz große Frage, die trotz seiner Antwort und seiner Reue im Raum stand:
     

    Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?
     

    Alle Gäste hatten inzwischen das Restaurant verlassen. Es war spät geworden. Der Besitzer stellte bereits die Stühle der anderen Tische hoch und bat uns schließlich, zu bezahlen. Das taten wir dann auch und gingen zögernd nach draußen.
    Es war lau, aber ein Hauch frühherbstlicher Kühle hatte sich schon unter die Abendluft gemischt. Ich schaute hinaus auf den See - und plötzlich überkam mich eine überwältigende Traurigkeit.
     

    »Ich werde morgen sehr früh aufbrechen. Wir sollten uns jetzt verabschieden«, sagte er.
    »Ja, ich bringe dich noch zu deinem Zelt.«
    Und schweigend gingen wir los.
     

    Vor seiner kleinen Behausung angekommen, reichte er mir die Hand. Ich zögerte ein paar Sekunden, griff dann kurz zu, ließ aber sofort wieder ab von ihm und trat einen Schritt zurück. Ich wollte nichts aus seinem Gehirn hören. Er sah mich erschrocken an, versuchte etwas zu sagen, was ihm aber nicht gelang, und blickte dann mir leerem Gesicht zu Boden.
     

    »Vielleicht kannst du mir einmal schreiben«, flüsterte er beinahe. »Ich würde mich sehr freuen.«
    »Ja, ich werde dir schreiben.«
     

    Und ohne ihn noch einmal anzusehen, ging ich zurück zu meinem Auto.

26

    Mit meiner inneren Ruhe war es vorbei. Ich konnte unmöglich wieder an die Zeit, bevor ich Boris kennengelernt hatte, anknüpfen. Dafür war in den letzten Wochen viel zu viel geschehen. Und so fühlte ich mich gleich am ersten Tag nach seiner Abreise bedrückt, zerrissen und belastet. Ich ging zwar wieder hinaus in die Natur, wanderte, fischte und saß lange in der Sonne des aufziehenden Indian Summer, aber ich wurde nicht Herr über meine Gedanken - und nicht Herr über meine Gefühle.
     

    Immer wieder kam mir Moritz in den Sinn. Und die Situation damals. Ich hatte so viel über seine perverse Veranlagung erfahren, und dennoch waren mir die Hände gebunden gewesen. Ich hätte nichts unternehmen können. Aber die beiden Fälle waren absolut nicht miteinander vergleichbar.
    Und diesmal hatte mir nicht die Stimme die Wahrheit offenbart, sondern ein Freund, mein Freund Boris.
    Dennoch türmten sich Fragen über Fragen vor mir auf.
    Wie würde ich mit seiner Schuld und seinem Schweigen umgehen können? Durch sein Fehlverhalten war ein Mensch gestorben, und er hatte sich der Sache nicht gestellt. Würde dies meinen Blick auf ihn verändern - oder hatte es ihn bereits verändert? Würde seine Vergangenheit unsere Zukunft belasten oder gar verbauen? Könnte ich unbefangen mit ihm umgehen? Ich war immerhin Mitwisser einer Straftat geworden. Wie sollte ich mich verhalten? Musste ich etwas unternehmen? Sollte ich ihn drängen, zur Polizei zu gehen, quasi als Bedingung für das Weiterbestehen unsere Freundschaft?
    Ich dachte an die Angehörigen von Dirk, die sich sicherlich so sehr wünschten, dass der Fall endlich aufgeklärt werden könnte. Vielleicht lebten seine Eltern noch. Wie schlimm es für die alten Leute sein musste, die jahrelange Ungewissheit zu ertragen. Hätte ich meinerseits gar die moralische Pflicht, mich an die Polizei zu wenden, wenn Boris selbst es nicht täte?
     

    Auch grübelte ich über eine Frage nach, die ich mit Boris nicht erörtert hatte, die aber von großer Bedeutung war: Was hatte die Obduktion von Dirks Leiche ergeben? War er wirklich an seinem Blut erstickt - oder hatte ihm Boris einen so heftigen Schlag verpasst, dass er durch diese
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher