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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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machen. In der Regel ging das sehr schnell, da ich vorher immer genau wusste, was ich wollte, und in dem Lädchen kaum ein Kunde anzutreffen war. Diesmal allerdings herrschte geradezu Hochbetrieb. Und so kam es, dass ich an der Kasse warten musste. Bestimmt fünf bis zehn Minuten. Da es in dem Geschäft keine Einkaufswagen gab, sondern nur Einkaufskörbe, standen die Kunden eng hintereinander. Und ich mittendrin. Der Abstand sowohl zu meinem Vorder- als auch zu meinem Hintermann hatte die magische Grenze unterschritten. Das heißt, ich war immer in Reichweite mindestens eines Gehirns. Aber ich hatte kaum etwas empfangen. Nur vorbeiziehende Farbfetzen ab und zu, sonst nichts. Keinen Satz und kein Wort. Ich hatte dem damals keine besondere Bedeutung beigemessen und hielt das Ganze für einen Zufall. Es hätte ja durchaus sein können, dass die Leute gedankenlos vor sich hin dösten, in der Hoffnung, bald bezahlen zu können.
     

    Jetzt aber machte mich der Vorfall nachdenklich.
     

    Großer Gott, mir wurde, obwohl ich bewegungslos in meinem Bett lag, fast ein wenig schwindelig.
    Sollte sich etwas in mir verändert haben?
    Hatte sich der Fluch womöglich abgeschwächt?
    Wenn ja, warum - und seit wann?
    Ich stoppte meine Überlegungen. Ich traute mich gar nicht, weiter darüber nachzudenken. Es hatte keinen Sinn zu spekulieren. Schon gar nicht über mögliche Konsequenzen, die ein gänzliches Verschwinden des Fluches gehabt hätte. Nein, er war nun einmal mein Schicksal, und längst hatte ich mich mit ihm abgefunden. Andererseits war er gerade jetzt, nachdem ich Boris getroffen hatte, zu meinem größten Lebensproblem geworden.
     

    Und noch etwas fiel mir ein. An dem Tag, als ich meinen ersten Brief an Boris abgeschickt hatte, war auch etwas Sonderbares geschehen, was ich seinerzeit nicht ernst genommen hatte. Ich war einfach darüber hinweggegangen. Nachdem ich den Brief in einen Postkasten geworfen hatte, war ich noch zu Tuuli gefahren. Ich wollte nicht allein sein und hatte Lust, etwas zu trinken. Tuuli war wieder einmal in Bedienlaune - und so brachte sie mir einen großen Kaffee an den Tisch. Genau in dem Moment, als sie die Tasse vor mir abstellen wollte, blieb sie mit ihrer Armbanduhr an ihrer langen Perlenkette hängen. Diese riss sofort entzwei, und Dutzende der kleinen weißen Kugeln gingen klickernd zu Boden. Auf allen vieren und in allen Richtungen suchten wir dann nach ihnen. Dabei ergab es sich, dass Tuuli und ich für kurze Zeit zusammen unter einem kleinen Tisch hockten. Ich war ihrem Kopf, ihrem Gehirn also äußerst nahe gekommen. Und schon meldete sich die Stimme, auf Finnisch. Ich verstand nichts. Dann jedoch brach sie plötzlich ab, und zwar so, als hätte irgendjemand völlig unvermittelt und chirurgisch genau an dieser Stelle einen Schnitt gemacht. Ob es sich wirklich um ein abruptes Verstummen, quasi mitten im Satz, gehandelt hatte, konnte ich nicht beurteilen, da ich die Sprache ja nicht beherrschte. Aber es war mir so erschienen. Kein einziges Mal zuvor hatte ich die Stimme in dieser Weise wahrgenommen.
     

    Ging vielleicht tatsächlich etwas in mir oder mit mir vor?
    Allein schon die verwegene Hoffnung, die Kraft des Fluches könnte schwinden, schien mein Blut mit Adrenalin zu fluten. Ich war hellwach. Ich musste etwas unternehmen. Aber was? Die Stimme testen, ja! Den Fluch überprüfen, ja! Aber wie? Da kam mir eine Idee. Ich hatte mich noch nie in der unmittelbaren Nähe eines Schlafenden aufgehalten, wusste also nicht, welche Signale ein nicht waches Gehirn aussendet.
    Meiner Frau Anna war ich damals, als wir noch gemeinsam in einem Zimmer schliefen, auch nachts intuitiv ausgewichen.
    Die im Traum formulierten Gedanken und erlebten Gefühle müssten doch für mich ebenso empfangbar sein wie die eines wachen Menschen. So meine Überlegung. Also stand ich leise auf, machte einen Schritt hin zum Kopfende des Etagenbettes und beugte mich über Boris. Der Vollmond schien in unsere kleine Schlafstube und direkt auf sein Gesicht. Schaurig blass war es anzusehen. Er hatte aufgehört zu schnarchen. Ich ging ganz nahe an ihn heran, so dass sich unsere Nasen beinahe berührten, und schaute auf seine geschlossenen Augenlider. Ich stand vollkommen regungslos - und horchte. Tief in mich hinein. Tief in ihn hinein. Ich lauschte, konzentrierte mich - und atmete kaum, um von meinen Wahrnehmungen nicht abgelenkt zu werden. Minutenlang verharrte ich in dieser Position.
    Aber: Meine inneren Ohren hörten
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