Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts
Autoren: Oliver G. Wachlin
Vom Netzwerk:
PROLOG
    Anfang Oktober ist es schon verdammt kühl in den Nächten, trotz langer Unterhosen und dick gefütterter Bomberjacke. Keine von den Billigteilen, die man heute in jedem Discounter findet. Nein, meine Jacke ist echt, schlappe dreihundert Mark habe ich für die  MA -1 von Alpha Industries hinblättern müssen. Und dennoch kriecht jetzt langsam die Kälte durch. Um wenigstens meine Finger warm zu halten, sichere und entsichere ich die alte russische Leuchtpistole immer wieder und versuche, dabei so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Der Jäger arbeitet lautlos, und die Jagdsaison ist noch lange nicht vorbei. Irgendwann werden sie kommen. Sie kommen immer in solchen Nächten.
    Ich liege versteckt im Dickicht auf einer Anhöhe mit gutem Überblick über die Flussniederung. Nebelschwaden wabern über die Wiesen, milchig erhellt von einer bleichen Mondsichel, die aus unruhigen Wolkenfetzen tritt. Der Wind zerrt an den Erlenbäumen, dass es welkes Laub regnet, und zaust die langen Arme trauernder Weiden am Ufer. Die Neiße ist hier höchstens einsfünfzig tief und ihre Strömung längst nicht so mehr stark wie in den engen Tälern flussaufwärts. Sie mäandert durch ein breites Auenbett, es gibt Furten und Sandbänke. Für jemanden, der sich hier auskennt, ist der Fluss kein Hindernis. Man kann einfach hindurchwaten. Das zieht jede Menge Gesindel an. Glücksritter aus Osteuropa, tschechische Schmuggler, rumänische Zigeuner, ukrainische Nutten. Autodiebe und ganze Busladungen mit Kleinkriminellen, die nach ihren Raubzügen durch grenznahe deutsche Städte und Gemeinden gleich wieder verschwinden.
    Am schlimmsten aber sind die Tagelöhner. Sie arbeiten für jeden Hungerlohn und machen dem ansässigen Gewerbe Konkurrenz. Ganze Existenzen sind so schon vernichtet worden. Nach den unrentablen  VEB s der alten  DDR  gehen jetzt auch die kleinen Handwerksbetriebe ein. Dabei gibt es doch genug zu tun beim Aufbau Ost. Aber die Klempner, Zimmerer und Maurer dafür kommen illegal über die Grenze. Die Fassaden der alten Bürgerhäuser in Görlitz, Zittau und Dresden werden von polnischen Stuckateuren saniert, slowakische Fliesenleger bringen ostdeutsche Badezimmer auf Westniveau, und das Gros der Steuergelder für die Renovierung sächsischer Straßen fließt in die Taschen straff organisierter, schwarzarbeitender Asphaltierer aus Moldawien.
    Unhaltbare Zustände sind das, da braucht es Zivilcourage. Deshalb hocke ich hier zwischen schwarz-rot-goldenen Grenzpfählen im Gebüsch und friere mir den Arsch ab. Ich will dem ganzen Gesocks einen heißen Empfang bereiten. Fiesta Mexicana. Fressen oder gefressen werden. Nur darum geht’s im Leben. Das ist das Gesetz des Dschungels, und es liegt nur an dir, ob du Gejagter oder Jäger bist. Es ist allein deine Entscheidung.
    Plötzlich Stimmen. Ich schnappe mir das Fernglas und schaue hindurch. Es kommt ebenfalls aus russischen Armeebeständen. Seitdem klar ist, dass die Sowjets abziehen müssen, verscherbeln sie ihre Ausrüstung. Da habe ich mich mit dem Nötigsten eingedeckt. Zwei Ferngläser, eine Zeltplane und einen Schlafsack zum Biwakieren, eine Leuchtpistole und drei Kisten mit der dafür nötigen Munition. Signalraketen. Rote und grüne, mit denen man Ziele markieren kann. Die weißen erhellen das Operationsgebiet mit gleißendem Licht und halten sich minutenlang in der Luft.
    Konzentriert suche ich das jenseitige Ufer durchs Fernglas ab. Es hat einen gut funktionierenden Restlichtverstärker, der das schwache Mondlicht bündelt und die schwarzen Gestalten sichtbar macht, die drüben langsam den Hang zum Fluss hinunterkriechen. Mehrmals blitzt ein schwacher Lichtschein auf, wahrscheinlich eine Taschenlampe, und irgendwer ruft zischelnd  »Dawai, dawai«.
    Russische Schlepper also. Die müssen sich ja verdammt sicher fühlen, wenn sie hier mit Lichtern herummachen. Haben womöglich die Grenzschützer mit ein paar Hundertern bestochen. Vom  BGS  jedenfalls ist niemand zu sehen, obwohl ich vorhin Motorengeräusch gehört habe. Als hätte ein Auto hinter dem Deich gestoppt.
    Ich halte den Atem an, warte. Schon waten die Ersten vorsichtig ins Wasser, das Gepäck mit hocherhobenen Armen über den Köpfen haltend.
    Aber so läuft das nicht, Amigos, nicht mit mir! Das ist hier nicht das Eldorado, stopp, Einreise verweigert. Ein kleines Stück noch lasse ich sie herankommen und dann …
    Lautlos bestücke ich die Leuchtpistole mit einer Signalrakete. Weißes Licht, damit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher