Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
Vom Netzwerk:
Widerwillen. Ich wollte allein sein. Ich wollte mich beobachten, und Ich wollte nachdenken. Und so ermunterte ich Anna, unter Berufung auf meinen exzellenten Gesundheitszustand, ruhig arbeiten zu gehen, ich würde mich schon sehr gut allein beschäftigen können - und überhaupt sollten wir nicht so viel Aufhebens um die ganze Angelegenheit machen. Es sei ja schließlich nichts passiert. Und tatsächlich, nach einigem Hin und Her, stimmte sie zu. Ich war erleichtert. Oberflächlich gesehen. In der Tiefe jedoch hockte die Angst und hatte mein Herz fest im Griff.
    So fest wie noch nie zuvor.
    Das konnte ich sehr gut beurteilen, war doch die Angst meine ständige Lebensbegleiterin gewesen. Mit niemandem hatte ich so oft, so blutig und so erbarmungslos gekämpft wie mir ihr. Ohne wirklichen Erfolg allerdings. Es gab Zeiten, da blieb sie auf respektvollem Abstand. Aber ich wusste, dass sie mich aus der Ferne immer heimlich beobachtete, auf der Lauer lag und nur auf eine gute Gelegenheit wartete, mich wieder zu überfallen. Und das geschah oft sehr heimtückisch, wenn ich mich vor ihr in Sicherheit wähnte oder wenn ich sie beinahe schon vergessen hatte.
    Ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung mit ihr. Da war ich gerade mal sechs Jahre alt. Meine Einschulung stand kurz bevor, und meine damals schon sehr alte Tante Elfriede, im Grunde eine gute Frau, aber eine Sklavin meiner späteren Feindin, nahm mich auf den Schoß und sagte: »Nun beginnt der Ernst des Lebens, Junge. Hoffentlich wirst du in der Schule auch alles verstehen und gut mitkommen. Glaub mir, einfach ist es nicht. Und ehe man sich versieht, ist man auf dem Brettergymnasium.« So bezeichnete man damals bei uns die Hilfsschule, später Sonderschule genannt. Schnell verstand ich, dass der größte denkbare Abstieg eines Kindes darin bestand, an eine solche Schule verbannt zu werden. Allein um das Gebäude in unserer Stadt machten alle, Kinder wie Erwachsene, einen großen Bogen, so als würde es sich um eine Lepra-Station handeln. Was nun meine Person betraf, dachte sich das Schicksal wohl »Doppelt hält besser« und entschied, dass ich genau am Vorabend meiner Einschulung mit Tante Elfriede am Brettergymnasium vorbeikommen sollte. Diesmal wurde jedoch kein großer Bogen um das Gebäude gemacht, sondern wir gingen ganz nahe und sogar recht langsam am Schulhofzaun entlang. Ich hatte Schmerzen in meiner rechten Hand. Tante Elfriede hielt mich wie immer viel zu fest. Meine Mutter hatte mich ihr anvertraut, und wahrscheinlich glaubte die Tante, je kräftiger sie meine kleine Kinderhand zusammendrückte, desto geringer wäre das Risiko, dass mir irgendetwas Schlimmes passieren könnte. Ich verbiss mich in meiner Unterlippe, schwieg zu der Folter und trottete stumm neben der Tante her. Bis sie plötzlich stehen blieb, meinen und ihren Arm hoch nach oben, in Richtung Haupteingang des Brettergymnasiums, schwang und lauthals, ja beschwörend sagte: »Hoffentlich wirst du da nie enden!« Ich schaute sie entsetzt an, und mir schössen Tränen in die Augen. Jedoch nicht wegen der Beschwörung, sondern wegen der nun beinahe nicht mehr erträglichen Schmerzen in meiner Hand. Die Sorge der Tante, ich könnte irgendwann in der Gosse unserer Gesellschaft landen, brach mir fast die Fingerknochen. So fest drückte sie zu, während sie sprach. Ich fing leise zu weinen an, Tante Elfriede ließ mich daraufhin erschrocken los, tätschelte meinen Kopf, schwieg einen Moment, wirkte etwas ratlos und setzte dann noch einen drauf: »Na ja, Arne, jetzt hör mal auf zu weinen, so weit ist es ja noch nicht.«
     

    Die wenigen Sätze von Tante Elfriede hatten ein Loch in mein Herz gestoßen, und die Angst konnte ungehindert hineinziehen.
    So wurde die größte Pein meiner Kindheit und Jugend die Angst, zu versagen. Sogar während meines Studiums hatte Ich stets mein Scheitern vor Augen. Und noch im Berufsleben, mit der Sicherheit einer festen Anstellung im Rücken, als durchaus erfolgreicher Reporter und Redakteur, versetzte mich der Anblick eines Obdachlosen auf der Straße sofort in Schrecken. Und das nicht nur aus Mitleid, sondern aus Sorge, selbst einmal dergestalt abzurutschen.
    Neben der Versagensangst plagte mich seit meiner Pubertät die Unsicherheit Menschen gegenüber. Es kostete mich immer große Überwindung, mit solidem Selbstbewusstsein jemandem entgegenzutreten. Nur ganz selten fand ich sofort die richtige Einstellung zu einer Person, so dass ich mich ohne innere
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher