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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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Anspannung auf sie einlassen konnte.
    Die schlimmste Angst aber kam, als mein vierzigster Geburtstag näher rückte. Es war die Angst, falsch zu leben. Und die Angst vor dem Tod. Beides gehörte für mich untrennbar zusammen. Denn würde es mir gelingen, richtig zu leben, brauchte ich auch keine Angst mehr vor dem Tod zu haben. Davon war ich überzeugt. Wie aber lebte man richtig? Ich konnte diese Frage nicht beantworten. Und die Erkenntnis, eine falsch gelebte Stunde niemals mehr in eine richtig gelebte Stunde verwandeln zu können, war für mich erschütternd. Jede Sekunde, die vergangen war, erstarrte unabänderlich in der Ewigkeit, und je älter ich wurde, desto gnadenloser erschien mir die Unaufhaltsamkeit der Zeit. Ich fand es furchtbar, macht- und tatenlos mit ansehen zu müssen, wie sie einfach verschwand.
    Und überblickte ich meine Jahre, so kam ich immer mehr zu der Überzeugung, dass sehr viel falsches Leben hinter mir lag. Keine schöne Erkenntnis.

5

    Nun sitzen wir hier auf unserer Traum-Schaukel ... und alles könnte perfekt sein. Aber er langweilt mich so. Immer dieselben Gespräche, immer dieselben Meinungen. Wie öde. Ich weiß jetzt schon, was er gleich sagen wird. Scheiße, warum bläst er den Rauch immer in meine Richtung?
     

    Diese Gedanken meiner Frau Anna über mich, ihren langjährigen Ehemann, waren im doppelten Sinne ein Schlüsselerlebnis für mich. Denn nach diesen wenigen Sätzen begriff Ich schlagartig, was wirklich mit mir los war, welche Fähigkeit ich besaß - und sie offenbarten mir den Zustand unserer Ehe.
     

    Knapp eine Woche hatte ich mich seit der Entlassung aus dem Krankenhaus herumgequält. Die Stimme war ich nicht losgeworden. Auch nicht die seltsamen Farbvisionen, die Immer wieder von meinem Inneren Besitz ergriffen. Ich war in einer schlechten seelischen Verfassung. Aber, und das fand ich interessant, neben der großen diffusen Angst, die mich so erdrückte, war von Tag zu Tag etwas mehr Neugierde in mir aufgekeimt. Ich wollte wissen und verstehen, welches Geheimnis mich umgab. Wobei ich aufgrund einer vagen Ahnung eine geistige Erkrankung kaum noch in Erwägung zog.
     

    Und dann saßen Anna und ich an einem Sonntagnachmittag im Garten auf unserer großen Hollywoodschaukel, ich ganz rechts, sie ganz links. Wir hatten uns eine Zeit lang über die Charaktereigenschaften verschiedener Hunderassen unterhalten. Als ich dann dicht an sie heranrückte - ich wollte ihr ein Papiertaschentuch geben -, passierte es. Ich hörte: »Nun sitzen wir hier auf unserer Traum-Schaukel ... er langweilt mich so ...« Und erstarrte.
     

    Was die Stimme zum Ausdruck brachte, waren also die Gedanken anderer Menschen - in diesem Fall Annas Gedanken.
    Wie spektakulär.
     

    Mein Herz schlug so schnell und heftig, als würde es gleich platzen. Zum einen wegen der unheimlichen Erkenntnis an sich, aber auch, weil ich über den Inhalt des Gehörten absolut schockiert war.
     

    So dachte Anna über mich?
    Ich langweilte sie?
    Sie fand unsere Gespräche öde?
    Ich konnte es kaum glauben.
     

    Bestimmt zehn, fünfzehn Sekunden lang rührte ich mich nicht. Rutschte dann aber noch ein wenig näher an sie heran, so dass sich unsere Körper berührten, legte sogar meinen Arm um ihre Schultern und spielte den Gedankenverlorenen. Aber ich war hochkonzentriert und lauschte - lauschte hinein in Annas Gehirn.
    Sie schien an jenem Nachmittag in keiner guten Verfassung zu sein. Die Gedanken jagten nur so durch ihren Kopf, und anfangs bereitete es mir große Mühe, alles zu verstehen. v Aber dann gelang es gut. Anna saß mit hinten angelehntem Kopf in der Schaukel. Sie hatte sich ein Kissen in den Nacken geschoben, ihre Augen waren geschlossen, und ihre Körperhaltung sollte wohl, ebenso wie meine, Entspannung und Wohlbefinden vortäuschen. Sie atmete die warme Spätsommerluft tief und hörbar ein, ihre Hände lagen in ihrem Schoß.
     

    Wahrscheinlich werden wir noch in dreißig Jahren hier so sitzen. Jeden Sommer. Jahr für Jahr. Sonntag für Sonntag. Vielleicht werden wir dann gar nicht mehr miteinander reden. Weil alles gesagt ist. Wie schrecklich. Ich hätt so gerne ein Kind.
     

    Ich griff zu meinem Weinglas, das direkt neben der Schaukel auf einem kleinen Tisch stand, und trank ein wenig.
     

    Dieses Geräusch, wenn er schluckt, ich kann es nicht mehr hören, wie widerlich.
     

    Ich setzte noch einmal an und trank das Glas jetzt ganz leer.
     

    Kein Mensch schluckt so ekelhaft.
     

    Meine Hand
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