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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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steht,
    ist morgen dem Tode geweiht.
     

    Ich kannte Anna nun schon vierzehn Jahre.
    Seit wann dachte und empfand sie so?
     

    Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Sie schien fast immer ausgeglichen und zufrieden zu sein. Nur äußerst selten hatte ich sie in trauriger oder düsterer Gemütslage erlebt. Und Wenn, dann schob ich es auf beruflichen Stress oder normale und somit harmlose Stimmungsschwankungen. Sprach ich sie darauf an, bestätigte sie meistens meine Vermutungen. Im Laufe der Jahre war ich dann dazu übergegangen, ihre Verstimmtheiten einfach zu ignorieren, in der Annahme, es stecke schon nichts Gravierendes dahinter. Warum sollte man also jedes Mal darüber reden? So verhielt sie sich mir gegenüber übrigens auch. Wobei wir uns die wichtigsten beruflichen Vorkommnisse und Probleme schon erzählten.
    Einmal allerdings, da irritierte mich Anna, da kam sie mir vor wie eine Fremde. Sie guckte anders, sie sprach viel langsamer als sonst, und sie vermittelte mir das Gefühl einer gewissen Bedeutungslosigkeit neben ihr. Es war jener Tag, im dem unsere Kinderlosigkeit durch das ärztliche Gutachten endgültig besiegelt worden war. Ich deutete ihr seltsames Verhalten als Ausdruck des Entsetzens und der Traurigkeit. Denn bis zuletzt hatten wir gehofft, dass sich die Dinge doch noch irgendwie fügen würden.
    Die fremde Anna verwandelte sich aber schon am darauffolgenden Tag wieder in die mir vertraute Anna - und so machte ich mir keine weiteren Gedanken.
     

    Ja, große Leidenschaft hatte uns nie verbunden, dafür jedoch von Anfang an eine tiefe und ruhige Liebe. So jedenfalls war mein Empfinden gewesen. Dass sie mich aber offenbar überhaupt nicht begehrte, versetzte mir einen heftigen Schlag. »Immer« hatte sie an Max gedacht? Womöglich auch schon in den ersten Wochen und Monaten unserer Liebe? Ich versuchte mich an damals zu erinnern. Wie hatte sie sich in intimen Situationen verhalten? Viele Szenen kamen mir ins Bewusstsein, und mir lief es kalt den Rücken hinunter bei der Vorstellung, dass nicht ich die Quelle ihrer Lust gewesen war, sondern der Gedanke an Max. Den ich übrigens nur ein einziges Mal gesehen habe. Er ging auf einem Bürgersteig, Anna und ich fuhren mit dem Auto an ihm vorbei. Nur für ein paar Sekunden trafen sich unsere Blicke. Und Anna sagte: »Da ist ja Max«, in einem Ton, der mich ein wenig verletzte. Ich wusste damals nicht, warum. Die beiden waren über drei Jahre zusammen gewesen und hatten sich schließlich im Streit getrennt. Die Trennung war von Anna ausgegangen, denn in den letzten Monaten ihrer Beziehung hatte Max sie sogar einmal geschlagen. Und zwar so heftig, dass sie nachts in der Ambulanz eines Krankenhauses an der Stirn genäht werden musste. Nach alledem und so vielen Jahren, die mittlerweile vergangen waren, begehrte sie ihn also noch immer?!
    Das hätte ich nie für möglich gehalten.
    Von einem Augenblick auf den anderen musste ich das ganze gemeinsame Leben mit Anna neu bewerten. Die vielen Jahre, die hinter uns lagen, die wir so eng zusammen verbracht hatten, erschienen nun plötzlich in einem düsteren Licht. Das war äußerst bitter, denn die Zeit mit Anna hatte ich als den schönsten Abschnitt meines bisherigen Lebens empfunden. Die fehlende Begierde war für mich nie ein Problem gewesen. Ich hatte mich, bevor ich Anna traf, ausgetobt, hatte mit vielen Frauen geschlafen und zwei Beziehungen geführt, die sehr lustvoll gewesen waren. Als ich Anna dann kennenlernte, hatte mein Bedürfnis nach fiebernder Sexualität schon spürbar nachgelassen. Eigentlich ungewöhnlich für einen Mann, der nicht einmal fünfunddreißig Jahre alt war. Aber ich empfand damals so. Und je intensiver die geistige Verbindung mit Anna wurde, desto mehr rückte das Verlangen nach ungestümer körperlicher Liebe in den Hintergrund.
    Anna hatte vor mir nur eine Beziehung gehabt, die zu Max. Er war auch ihr erster Mann überhaupt gewesen. Und danach kam ich. In Sachen Sexualität hatte sie also zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens noch nicht viel erlebt. Der Grund dafür lag in ihrer Familie. Sie entstammte einem äußerst frommen, evangelikalen Elternhaus. Sexualität war dort stets ein Tabuthema gewesen, und alle diesbezüglichen Aktivitäten vor der Ehe galten als sündhaft und verwerflich. Schon früh hatte Anna die Sehnsucht nach Erotik und auch Sexualität verspürt, aber nie hätte sie es gewagt, diesem Verlangen zu folgen. Zu groß war die Angst vor dem Vater, der Mutter
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