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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
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    Nach dem kurzen Anruf seiner Mutter, der ihn vom Tod seines Vaters in Kenntnis setzte, holte John James einmal tief Luft, buchte den nächsten verfügbaren Flug nach Delhi, ließ sich von Elaine nach Heathrow fahren, reiste in die anbrechende Nacht hinein und landete schließlich bei wesentlich kühlerem Wetter als erwartet auf dem Indira-Gandhi-Flughafen. Die Bestattung sollte am nächsten Morgen sein. Seine Mutter war nicht zu Hause, aber das ältere Hausmädchen ließ ihn in die Wohnung und erklärte, Mrs. James sei wie üblich in die Klinik gegangen. »In Klinik«, sagte sie. »Madam ist in Klinik.« John stellte seine Tasche in das Gästezimmer und setzte sich aufs Bett. Seufzend betrachtete er die Bücherregale. Soll ich duschen? Plötzlich schienen seine Kräfte nachzulassen, und er spürte einen leichten Schwindel. Nein, das Wichtigste war jetzt, Dads Leiche zu sehen.
    John stand auf und ging in die Küche, wo das Dienstmädchen gerade den Fußboden wischte. Hatte sie eine Telefonnummer, fragte er, unter der seine Mutter zu erreichen war? Eine Handynummer, oder eine Nummer bei der Arbeit? Der Kopf der Frau wackelte seltsam, als sie ihn anschaute. Sie schien nicht zu verstehen. John wiederholte die Frage. »Ich muss meine Mutter anrufen. In der Klinik.« »Klinik«, sagte die Frau, immer noch mit dem Kopf wackelnd. Sie fing an, ihm zu erklären, wie man dort hinkam. Sie gestikulierte mit beiden Armen, tat so, als würde sie durch eine Tür gehen und sich dann nach rechts wenden. EinSpaziergang würde ihm vermutlich guttun, dachte John und machte sich auf den Weg.
    Draußen war trotz des kühleren Wetters das Licht genau so glasig-grell, wie er es von früheren Reisen in Erinnerung hatte, in der Luft hing der gleiche säuerliche Geruch und das Straßenbild wurde immer noch von dieser seltsamen Mischung aus hektischem Verkehr, Straßenküchen, kränklichen Tieren und hartnäckigen Bettlern bestimmt. John gefiel das. Er kam sich vor wie im Urlaub. Ich arbeite zu viel, dachte er. Diese Reise würde ein paar Spinnweben aus seinem Kopf wegpusten.
    Jemand wollte ihm Postkarten von der Altstadt verkaufen, Nippes, Halsketten, Heiligenbilder. Lächelnd lehnte er ab. Aber die Klinik fand er nicht. Entlang der breiten Straßen schien sich ein Häuserblock an den anderen zu reihen, einige in beträchtlicher Entfernung, aber alle von bröckelnden roten Mauern umgeben. Zwischen den Gebäuden standen hohe Bäume, in deren Kronen die Krähen krächzten. John zog ein Handy aus der Tasche und schrieb eine SMS an Elaine: »Stell dir vor! Mum nicht zu Hause, hat weder Nachricht noch Nummer hinterlassen. Verlaufe mich gerade auf der Suche nach ihr. Wünschte, du wärst hier. Küsse. J.«
    Johns Vater war an Krebs gestorben, aber das Ende war überraschend schnell gekommen. Nach allem, was John über Prostatakrebs wusste, hatte es keinen unmittelbaren Anlass zur Sorge gegeben. Selbst in Indien konnte man so etwas über Jahre unter Kontrolle halten. Manche Westeuropäer flogen sogar nach Delhi, um sich dort preisgünstig operieren zu lassen. Und Dad hätte jederzeit nach England zurückkehren können, wenn er eine besondere Behandlung gebraucht hätte. »John, dein Vater ist heute Morgen gestorben«, hatte seine Mutter gesagt. Er hatte ihren Tonfall nicht einschätzen können. Er war gerade im Labor im Keller des Zentrums; das Geräusch der Zentrifuge war laut und die Verbindung schlecht. Geweint hatte sie jedenfallsnicht. Mum war stark. Und seine eigene Reaktion war, gelinde gesagt, verhalten gewesen. Er hatte keine Tränen vergossen. Er war nicht einmal den Tränen nah gewesen. Dads ganze berühmte Forschungen haben also zu nichts geführt; das waren die ersten Worte, die ihm in den Sinn kamen. Er war nicht erschüttert. Eher im Gegenteil, es kam ihm so vor, als wäre etwas Quälendes vernünftigerweise abgekürzt worden.
    Erst als er mit Elaine sprach, bekam er ein Gefühl für die Tragik des Ganzen. »O Gott, John«, rief sie. »O Gott! John!« Sie vergaß ihre eigenen Probleme. Der Flug musste gebucht werden. »Wie schrecklich – du musst sofort nachsehen, ob dein Visum noch gültig ist. Mein Gott, so plötzlich. Die Ärmste. Deine Mutter tut mir ja so leid!« Wollte sie ihn etwa da unten beerdigen lassen? Bestimmt nicht. Und das Geld? Dass John derzeit nichts auf dem Konto hatte, war kein Geheimnis. Er bezahlte den Flug mit seiner Kreditkarte. »Aber was soll jetzt werden: deine arme Mutter, und dein Unterhalt?« Elaine
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