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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
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Noch mehr Leute hockten am Straßenrand. Helen scheuchte die Jungen davon.
    »Ich wollte niemanden beleidigen«, sagte John. »Verstehst du? Ich weiß nie, was man fragen darf und was nicht.«
    »Kulwant ist gerade damit beschäftigt, die Hochzeit seiner Tochter zu arrangieren«, sagte Helen. »Leider hat das Mädchen sich am Knie verletzt, gerade als alle sich einig geworden waren. Beim Aussteigen aus dem Bus wurde sie von einem Motorrad angefahren. Hier ganz in der Nähe. Also mussten sie das Geld, das sie für die Hochzeit gespart hatten, für die Operation ausgeben. So etwas ist hier nicht umsonst. Und jetzt ist die Familie des Bräutigams auf einmal sehr abweisend.«
    »Oh«, war alles, was John dazu einfiel. »Ich dachte, es würden keine Hochzeiten mehr arrangiert.«
    »O doch.« Helen blieb am Bordstein stehen und winkte einem Taxi.
    »Wieso fliegt er nach London, wenn er knapp bei Kasse ist?«
    »Das wird von den Pharmakonzernen bezahlt, damit er die richtigen Medikamente verschreibt. Natürlich nur denen, die sie sich leisten können. Wenn meine Patienten nur kriegen würden, was sie sich leisten können, würden sie überhaupt nicht behandelt werden.«
    Mutter und Sohn fuhren schweigend zur Wohnung zurück, aber als sie dann im Wohnzimmer saßen, sagte John endlich: »Ich hatte gehofft, Dad vor der Trauerfeier morgen noch einmal sehen zu können.«
    Helen hatte sich auf ihren Platz am großen Tisch gesetzt. Sie seufzte. »Ich dachte mir schon, dass du das möchtest, aber ich habe den Sarg heute Morgen versiegeln lassen.«
    Nach kurzem Schweigen machte John einen Versuch: »Kann man ihn nicht wieder öffnen?«
    Seine Mutter schaute ihren Sohn an. Der junge Mann war so wohl geraten, mit seinen weit auseinanderliegenden grauen Augen und dem dichten weichen Haar. Sie seufzte. »Es ist kein schöner Anblick, John. Behalt ihn lieber in Erinnerung, wie er war.«
    »Ich bin kein Kind mehr«, protestierte John.
    »Es ist schon achtundvierzig Stunden her«, sagte Helen. »Und er liegt nicht im Kühlhaus. Hier wird gewöhnlich alles sofort erledigt, verstehst du?«
    »Mum, ich verbringe meine Zeit damit, den Unterschied zwischen toten und lebenden Zellen zu studieren. Wir arbeiten in der gleichen Branche.«
    Seine Mutter gab keine Antwort.
    John schaute aus dem Fenster. »Wieso ist es so schnell gegangen?«
    »Er hatte Metastasen.«
    »Warum ist er dann nicht nach England geflogen?«
    »Du weißt doch, wie er war, John.«
    Der junge Mann fühlte sich betrogen. Er hatte seiner Mutter sein Mitgefühl zeigen wollen. Hatte erwartet, dass sie ihm erzählte, wie das Ende gewesen war. Dass sein Vater ihm irgendeine Nachricht hinterlassen hatte, ein paar Worte, über die er nachdenken konnte. Dass sie zusammen Fotos anschauen würden. Dad hatte ein reiches Leben gehabt, voller Reisen und Ideen. Dass sie sich gegenseitig trösten, sich nah sein und über die Zukunft reden würden. Stattdessen war der Sohn enttäuscht, ja sogar wütend. Er ging in die Küche, holte eine Cola aus dem Kühlschrank und setzte sich aufs Sofa vor den Fernseher.
    »Du hast an die Cola gedacht«, sagte er missmutig.
    Sie lächelte. »Wie könnte ich das vergessen? Erzähl mir von dir, John. Wie läuft’s mit der Doktorarbeit?«
    »So gut wie fertig«, sagte er. »Aber im Kontext der Forschung insgesamt ist die Arbeit kaum der Rede wert. Es geht um einen ganz neuen Ansatz im Umgang mit TB.«
    »Und deine neue Freundin?«
    »Elaine?« Er wurde versöhnlicher. »Ihr geht’s gut. Sie bewirbt sich gerade um ihre ersten Rollen als Schauspielerin.«
    »Na, dann wollen wir diesmal das Beste hoffen«, sagte seine Mutter.
    John war schon öfter von hübschen Mädchen verlassen worden. Seine Mutter kommentierte das gewöhnlich mit einem sarkastischen Lächeln. John gab keine Antwort.
    »Und wann bist du fertig?«
    »Wenn im Labor alles gut läuft, im Frühjahr.«
    »Und dann?«
    »Sie werden mich für das Projekt einstellen.«
    »Ganz sicher?«
    »Ich bin der Beste.«
    Seine Mutter betrachtete ihn. »Meinst du nicht, du solltestzuerst ein paar Erfahrungen sammeln? In der Forschung ist es oft hilfreich, wenn man ein bisschen was gesehen hat. Hier gibt es reichlich TB-Patienten, falls du interessiert bist. Du weißt, dein Vater …«
    »Mum«, sagte John und schüttelte den Kopf. »In meinem Bereich braucht man ein Leben lang, um all das zu verstehen, was man wissen muss, um auch nur einen winzigen Schritt voranzukommen. Man muss sich spezialisieren und noch
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