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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
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Delhi aus nach Norden hin immer länger wurde und Zahlen die Windgeschwindigkeit, die Außentemperatur und die geschätzte Ankunftszeit angaben, und plötzlich wurde er ganz ruhig. Das sind Dinge, an die du dein Leben lang denken wirst, erkannte er, Dinge, die zeitweise schlummern, aber auch immer wieder zum Leben erwachen werden. Es war auf jeden Fall gut, dachte er, dass er Dads Unterlagen an sich genommen hatte. Wenigstens darüber hatte er jetzt die Kontrolle.
    Eine Mahlzeit wurde serviert. Der übliche, unrealistische indische Liebesfilm fing an. Eine mürrische brahmanische Familie bestand auf kastengemäßen Artigkeiten. Ihrem gut aussehenden, ziemlich törichten Sohn war das jedoch egal. Er war hinter einer unglaublich schönen Supermarkt-Kassiererin her, deren Vater Alkoholiker war. Es war eine potenzielle Tragödie, die in Witzen und Gelächter enden würde. John machte Elaine ein Zeichen, sie solle ihre Kopfhörer abnehmen.
    »Ich glaube, ich werde Dads Biografie schreiben«, sagte er.
    »Wie?«
    »Ich werde ein Buch über ihn schreiben. Nicht jetzt, aber eines Tages.«
    Sie runzelte fragend die Stirn. »Na ja, er war dein Dad.«
    »Könnte sogar ein bisschen Geld einbringen«, fügte John hinzu.
    »Sah das Schultertuch, das du gekauft hast, so aus?«, fragte sie und zeigte auf die Leinwand.
    Er schaute hin. Das glückliche Supermarkt-Mädchen tanzte allein auf einem Plateau in den Bergen und schwenkte dabei ein teures Tuch, das der Brahmanen-Junge ihr geschenkt hatte, um sich zu verkleiden, wenn sie zu ihren geheimen Treffen ging.
    »Oh, viel schöner«, sagte er.
    »Dann beschreib es mir. Sag mir, wie es aussah.«
    John überlegte. Er fand es ganz schön schwierig, sich das Tuch bildlich vorzustellen, und noch schwieriger, sich an den Geisteszustand zu erinnern, in dem er es gekauft hatte. Woran er sich aber gut erinnern konnte, war der Moment, als er es auf dem Bett im Govind ausgebreitet und Vaters Computer daraufgestellt hatte; es gab Dinge, die tat man, als würde man einem Befehl folgen oder ein Ritual vollziehen. Es war seltsam.
    »Wenn du es nicht beschreiben kannst, wie soll ich dann glauben, dass du es tatsächlich gekauft hast?«
    »Na gut, warte mal.«
    John gab sich jetzt Mühe, sich die Situation im Laden ins Gedächtnis zu rufen, als er das Tuch ausgesucht hatte, nachdem der Verkäufer ein fantastisches Muster nach dem anderen vor seinen verwirrten Augen ausgebreitet hatte.
    »Ja, ich glaube, jetzt hab ich’s. Also, mal sehen: Die Farbe war lila, ein zartes Blasslila, mit kleinen goldenen Stickereien; deshalb habe ich es gekauft. Wegen der Farbe. Ich dachte, das Lila würde toll aussehen zu deinem Haar und deiner Haut. Ich habe es gesehen und dachte nur: Elaine.«
    »Obwohl du zu der Zeit meine Nachrichten überhaupt nicht beantwortet hast?«
    Er zuckte die Achseln.
    »Lila steht mir gut«, sagte sie.
    »Eigentlich« – jetzt fiel ihm etwas mehr ein – »habe ich erst später, als ich das Tuch in meinem Hotelzimmer auseinandergefaltet habe, gesehen, wie schön die Stickereien waren. Verstehst du? Ich hatte sie gesehen, aber nicht wirklich wahrgenommen. Es waren kleine, ineinander verschlungene Schlangen, die sich um die Kanten wanden, und in jeder Ecke ein Elefantenbaby. Ziemlich gängig vermutlich, aber sehr hübsch. Und der Stoff rann einem zwischen den Fingern hindurch wie Wasser. Er fühlte sich wirklich flüssig an, wie er durch die Hände glitt. Wie eine Flüssigkeit, die man fassen kann.«
    »Gib es mir«, sagte Elaine plötzlich. »Na los. Ich will mein Geschenk haben. Ich brauche ein hübsches Tuch. Gib es mir.«
    »Ich habe dir doch erzählt, dass es gestohlen wurde.«
    »Dummerchen, gib es mir.«
    Er schaute sie an. Sie wirkte beinahe feindselig, lächelte aber.
    »Na schön.« John zögerte, dann sagte er ziemlich ernst: »Eigentlich wollte ich ja warten, bis wir zu Hause sind, Elaine. Ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Moment für Geschenke ist. Nach allem, was passiert ist.«
    »Nein, ich will es jetzt haben«, sagte Elaine. »Ich möchte verwöhnt werden.«
    Sichtlich widerstrebend beugte John sich vor und wühlte in der Tasche mit den Zeitschriften der Fluggesellschaft. »Einen Moment«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, wo ich es hingetan habe.« Er schaute verwirrt drein und wühlte weiter. »Wo ist es denn bloß, verflixt noch mal? Ah«, er seufzte erleichtert, »na bitte.«
    Vorsichtig holte er ein weiches Päckchen heraus und gab es ihr. Elaine nahm es entgegen
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