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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
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Fluss?«
    »Ich glaube nicht.«
    Sie standen da und schauten nach unten. Zwischen den Grasbüscheln am abschüssigen Ufer graste ein halbes Dutzend schattenhafter Tiere. Sie waren nur schwer zu erkennen. Büffel vielleicht. Ungefähr fünfzig Meter weiter flackerte in einem Zelt oder Schuppen ein Licht.
    »Die Yamuna ist breiter«, sagte John, »und sie wird von großen Sandflächen gesäumt. Ich glaube auch nicht, dass sie hier vorbeifließt.«
    Er suchte mit den Augen den Straßenrand ab, hob einen kleinen Stein auf und warf ihn über das Geländer. Sie hörten ein dumpfes Platschen, konnten aber nichts erkennen. Das Mondlicht schien von diesem Wasser nicht gespiegelt zu werden. Es war ziemlich tief unter ihnen. John warf noch einen Stein, und noch einen. Sie war froh, dass er stehen geblieben war. Dann bekam sie doch wieder Angst, weil er nur still dastand und sich über das Geländer beugte.
    Unwillkürlich fragte sie: »Warum wolltest du nicht, dass die Asche deiner Mutter in den Fluss gestreut wird?«
    John gab keine Antwort, wandte sich ihr aber zu. Sie sah, wie seine Miene sich verfinsterte. Dann fasste er sich mit einer schnellen Bewegung an die Gesäßtasche seiner Jeans, zog zwei Papiere heraus und zerriss sie mit flinken, nervösen Fingern, ohne sie vorher auseinanderzufalten. Er beugte sich über dasGeländer und ließ die Schnipsel durch die stille Luft in die Tiefe segeln.
    »Es muss ein Kanal sein, oder ein Ablauf«, sagte John jetzt. Er beugte sich hinüber, um festzustellen, ob er das Papier auf dem Wasser sehen konnte. Ja. Die weißen Fetzen blitzten ab und zu im Licht des vorbeifahrenden Verkehrs auf.
    »Umweltverschmutzer«, sagte sie dümmlich.
    John hing über dem Geländer. »Bewegt es sich?«
    Sie schaute genau hin. »Nein.«
    Die Papierfetzen hingen ganz still in der Dunkelheit unter ihnen. Das Gewässer hatte einen widerlichen Geruch stehenden Wassers.
    »Weißt du noch …«, fing er an, musste dann aber warten, bis ein langsamer Lieferwagen vorbeigerumpelt war. Ein Schwall heißer Luft strömte über sie hinweg. »Weißt du noch, der Abend, als wir im Fluss gebadet haben?«
    »Das Wasser war ekelhaft schleimig«, sagte sie lachend.
    »Aber besser als hier.«
    Sie blickte zu den Papierfetzen hinab. »Sie haben sich bewegt. Guck mal. Ein kleines Stückchen. Von uns weg. Es fließt da lang.«
    »Würdest du hier baden gehen?«, fragte er.
    »Niemals.«
    »Mir zuliebe?«
    Elaine war erstaunt. Seine Stimme hatte sich verändert.
    »Was sollte das bringen?«
    Er schwieg.
    »Und du? Würdest du mir zuliebe in dieser Jauchegrube baden gehen?«
    John streckte die Hand aus und berührte sie. »Lass uns zurückgehen. Es ist ein langer Weg. Wir müssen morgen früh raus.«In der Wohnung der James’ zog sich John bis auf die Unterwäsche aus und legte sich aufs Sofa, bereit zum Einschlafen. Er wollte nicht bei ihr schlafen. Elaine ging ins Bad, duschte, wusch sich sorgfältig die Haare und wickelte sich ein Handtuch um den Kopf. Sie putzte sich die Zähne. Als sie ein Glas Wasser zum Mund hob und ihr das Gesicht im Spiegel ungewöhnlich nachdenklich und konzentriert vorkam, stellte sie sich vor, wie sie sich aufmachte, um das Glas Wasser den ganzen Weg nach Maida Vale zu tragen, ohne einen Tropfen zu verschütten. Warum nicht? Das wäre eine gute Pantomime, dachte sie vage, die ganze Welt mit einem vollen Glas Wasser in der Hand zu durchqueren. Es könnte eine Komödie sein, oder auch sehr erschreckend. Sie füllte das Glas erneut und hielt es mit ausgestrecktem Arm. Ihre Hand war ganz ruhig. Die Flüssigkeit zitterte nicht einmal. Das ganze Glas war total durchsichtig. Dann dachte sie, wenn sie morgen abreisten, gab es keinen Grund, warum sie nicht in dem Stück mitspielen sollte. Sie hatten wohl kaum jemanden gefunden, der sie ersetzen und innerhalb von Stunden alles lernen konnte. Das Wasser immer noch in der Hand haltend, ging sie zurück ins Wohnzimmer und dann zu dem kleinen Schlafzimmer, in dem sie die Nacht zuvor auch geschlafen hatte.
    »Gute Nacht, John«, sagte sie leise.
    John hatte die Augen geschlossen.
    »Ellie«, sagte er.
    Sie blieb stehen.
    Ohne die Augen aufzumachen sagte er leise: »Weißt du, Dad hatte eine Freundin, bevor er starb. Ich habe ein paar Briefe gelesen. Sie war sehr jung.«
    »Ach ja?« Elaine drehte sich zu ihm um. Er wirkte ganz ruhig. Sie zögerte. »Hat dich das beunruhigt?«
    »Na ja«, er lag still auf dem Sofa, er schien sich geradezu darauf zu konzentrieren,
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