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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
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das Buch, um eine Kritzelei am Rand zu lesen. Die schräge Handschrift besaß eine unheimliche, verkrampfte Dringlichkeit: »Leben bedeutet bestrafen.« Elaine runzelte die Stirn. Johns Vater war merkwürdig. Sie legte das Buch weg und ging ohne anzuklopfen ins Schlafzimmer.
    »Warum bist du nach Indien gekommen, John? Du hast mir rein gar nichts erzählt.«
    Sie bemühte sich, so ruhig zu bleiben wie möglich. »Warum hast du meine Nachrichten nicht beantwortet? Warum hast du deine Mutter erst gestern besucht? Was hast du die ganze Zeit gemacht?«
    John lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Er richtete sich ein Stückchen auf und öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder.
    »Sie hatte keine Ahnung, dass du hier warst. Deine Mutter. Ich habe mit ihr gesprochen. Vielleicht ist dir das nicht klar. Ich bin hier angekommen in dem Glauben, du wärst bei ihr. Ich habe mit ihr gesprochen, kurz bevor sie ins Krankenhaus gefahren ist. Am letzten Tag ihres Lebens. Bei dem Gedanken schaudert es mich. Ich weiß, ich kannte sie gar nicht, aber mir kam sie völlig normal vor. Was ist passiert, John? Warum hat sie das getan?«
    Ihr Freund starrte sie an, aber so, dass ihre Blicke sich nicht begegnen konnten. Er betrachtete ihren Hals, ihre Taille, jemanden, der gerade durch die Tür hereingestürmt war.
    »John! Ich weiß, es ist schrecklich, ich weiß, du musst total schockiert sein, aber bitte, lass uns ein bisschen reden. Bitte schau mich an, ich werde sonst noch verrückt.«
    Er seufzte, zögerte immer noch, schaute ihr aber schließlich doch in die Augen und sagte: »Ich möchte Dads ganze Bücher und Videos einpacken. Ich möchte sie alle in Kisten verstauen und nach London schicken. Wir müssen Kisten besorgen odervielleicht ein Transportunternehmen anrufen. Das können wir heute Nachmittag machen.«
    Elaine stand immer noch an der Tür. Das kleine Zimmer war weitgehend unmöbliert, bis auf das Bett und die schweren, selbst gezimmerten Bücherregale.
    »Willst du die Sachen nicht Paul geben?«, fragte sie. »Zumindest vorübergehend? Falls er seine Biografie doch noch schreibt. Es wäre viel einfacher, wenn er sich um alles kümmert.«
    John schüttelte den Kopf. »Mum wollte nicht, dass er ein Buch schreibt. Und ich will es auch nicht.«
    »Ach so.« Elaine war überrascht. »Du hast doch gesagt, es sei eine gute Idee.«
    »Nein.«
    »Aber wo um Himmels willen willst du das ganze Zeug denn hintun?« Sie wollte wirklich nicht, dass er diese Bücher nach England schickte.
    »Irgendwohin. Ich werde sie irgendwo lagern. Vielleicht bei meiner Großmutter. Sie hat ein großes Haus.«
    Das Mädchen setzte sich auf die Bettkante. Sie sprach sachlich. »Hör zu, John. Ich muss mich entscheiden, ob ich bald zurückfliege, innerhalb der nächsten zwei Tage, um in dem Stück zu spielen. Ich habe gesagt, ich kündige, aber sie bestehen darauf, dass ich wiederkomme. Sie schicken mir ständig Nachrichten. Ich muss mich entscheiden.«
    John gab keine Antwort. Sie legte eine Hand auf seine Hand, die auf der Bettdecke lag.
    Dann setzte er sich abrupt auf. »Ich muss die Bücher einpacken. Ich muss den Besitzer dieser Wohnung kontaktieren und den Mietvertrag kündigen. Wir müssen sehen, wann die Bestattung sein kann, und dann den nächstmöglichen Flug buchen. Und wir müssen jemanden finden, der dafür bezahlt und auch die Frachtkosten für die Bücher übernimmt.« Er schaute sie an. »Los, komm.«»Helen James war bei Weitem die bemerkenswerteste Frau, der ich je begegnet bin«, sagte Paul am nächsten Morgen bei der Trauerfeier in seiner Rede. John sah, dass Jasmeet rechts neben ihrem Vater saß. Ab und zu schickte das Mädchen ein strahlendes Lächeln in seine Richtung, so als wäre dies ein freudiger Anlass und zwischen ihnen bestehe eine besondere Komplizenschaft. Sie trug einen blassgelben Sari und eine blaue Bluse. Kulwant sah verstört aus und legte immer wieder einen Arm um die Schultern seiner Tochter. Sharmistha und Heinrich saßen weiter hinten, Seite an Seite.
    »Wie Sie vermutlich wissen, bin ich nach Delhi gekommen, um mich mit der Arbeit von Helens Ehemann, dem Anthropologen Albert James, zu beschäftigen, aber dann musste ich erkennen, dass man nicht über Albert reden konnte, ohne auch über Helen zu reden. Ihre unterschiedlichen, manchmal sogar gegensätzlichen Berufungen mussten als zwei Stämme betrachtet werden, die sich umeinanderschlingen und sich gegenseitig stützen. Ich weiß, dass
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