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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
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ging an einen Geldautomaten und bestand darauf, dass er zweihundert Pfund von ihr annahm, obwohl sie selbst vom Geld ihrer Eltern lebte.
    Dennoch waren all die vielen Worte, das spürte John auf dem Weg zum Flughafen, nichts als Geplapper. Seine Freundin bekam die Gelegenheit zu sehen, wie ihr Freund sich in einer Krise verhielt, und zu zeigen, wie hilfsbereit und vernünftig sie sein konnte. Er betete sie an, aber das hier war eine Show. Sie spielte Theater. Das war schließlich ihre Berufung. Alles Dramatische machte Elaine Spaß.
    Nein, der einzig bedeutende Gedanke in den vierundzwanzig Stunden, die seit dem Anruf seiner Mutter vergangen waren, so wurde ihm jetzt klar, war die Erkenntnis gewesen, dass er seinen Vater nie wiedersehen würde. Diese Worte waren ihm im Flugzeug gekommen. Es wurde ein Film in Hindi gezeigt, über einen Mann, der eine bestimmte Frau heiraten sollte, aber eindeutig in eine andere verliebt war, die aus Gründen, die John nichtverstanden hatte, für ihn absolut nicht infrage kam. »Du wirst ihn nie wiedersehen«, hatte er plötzlich vor sich hin gemurmelt.
    Kaum war ihm der Satz in den Sinn gekommen, wurde John hellwach. Er schnitt viel tiefer ins Herz als der Anruf oder irgendetwas, was Mutter gesagt hatte. Dann, während John versuchte, sich seinen Vater vorzustellen und gleichzeitig dem Film zu folgen, denn die Mädchen waren hübsch und er mochte die kräftigen Farben und die charmante Künstlichkeit dieser indischen Liebesfilme, wurde ihm klar, dass er kein klares Bild von seinem Vater im Kopf hatte: grüngraue Augen, schlaksig, Stirnglatze, rotblondes Haar, schmale Nase, ein leicht abwesender, zurückhaltender Gesichtsausdruck. Gerade genug für ein Phantombild. Oder noch nicht mal. Ich werde Dad nicht wiedersehen, dachte er. Und er beschloss, gleich nach der Ankunft in Delhi die Leiche seines Vaters anzuschauen. Er musste seinen toten Vater sehen und ihn für den Rest seines Lebens in seinem Gedächtnis verankern. Aber jetzt, während er eine breite Straße in Neu-Delhi entlanglief, an deren Rändern trockenes Gras im Wind schaukelte und hier und da in Lumpen gehüllte Bettler hockten, konnte er die Klinik seiner Mutter nicht finden. Und er wusste nicht, wo sein Vater war.
    Unglaublich, dass man sich per SMS zwischen Indien und Maida Vale verständigen, mit Elaine, die sechstausend Kilometer weit weg war, plaudern, seine Mutter um die Ecke jedoch nicht finden konnte. Das Hausmädchen hatte sehr zuversichtlich gewirkt. »Geradeaus, Sir, immer geradeaus!« Zuversichtlich hatte sie die Hand ausgestreckt, wodurch der lila Stoff ihres Saris hochgehoben wurde. »Einfach geradeaus. Dann links bei der roten Ampel. Ja. Ja. Sehr lange Straße, Sir.« Sie trug eine gelbe Bluse. Vielleicht hatte sie geglaubt, er habe einen Fahrer. »Ich wünschte, ich könnte bei dir sein«, schrieb Elaine zurück. »Habe heute Vorsprechen im Repertory Theatre. Drück mir die Daumen.« »Viel Glück, meine Schöne«, antwortete er.
    Ich sollte jemanden fragen, dachte John, aber in dieser Gegend waren keine Fußgänger unterwegs. Ein Mann, der mit dem Rücken an einem Baum hockte, schüttelte nur den tuchbedeckten Kopf. Seine Finger steckten in einer Schüssel. Nach einer Weile fuhr eine Autorikscha an den Straßenrand und folgte ihm im Schritttempo.
    John drehte sich um. »Gibt es hier in der Nähe eine Klinik?«, fragte er.
    Das Gefährt hielt an. »Klinik, Sir? Was für eine Klinik?« Die Augen des Mannes lagen in tiefen Höhlen. »Geht es Ihnen nicht gut, Sir? Brauchen Sie Arzt?« Auch er trug ein Tuch um den Kopf und lockere Kleidung. Seine Handgelenke, die auf dem Lenker lagen, waren unheimlich dünn. »Ja, ich fahre Sie, Sir. Steigen Sie ein. Ich fahre Sie.«
    John erinnerte sich, dass man sich zuerst über den Preis einigen musste. »Fünfzig Rupien«, sagte der Mann. Nur fünfzig Rupien. Da schien sich das Feilschen kaum zu lohnen. Sie kurvten zwischen den hektischen, hupenden Autos hindurch. Als ein Stau sie zum Anhalten zwang, musste der Fahrer ein paar Bettler verscheuchen. Ein kleines Mädchen bewegte auf sehr unnatürliche Weise die Arme. Der Fahrer rief etwas in Hindi. Das hier kann das Hausmädchen wohl kaum gemeint haben, dachte John, und als er schließlich durch Schlamm und Ziegelsteinscherben zur Rezeption einer kleinen Privatklinik ging, wusste man dort tatsächlich nichts von Doktor James.
    »Helen James«, wiederholte John.
    »Nein, Sir. Tut mir leid, Sir. Bei uns ist niemand mit diesem
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