Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
Vom Netzwerk:
gestorben.« Es war ihre Pflicht. Man darf dem Sohn den Tod des Vaters nicht verschweigen. John ist für mich eine Verpflichtung und eine Last, dachte sie. Sie schüttelte den Kopf. Was für elegante Kleidung er trug. Er wirkte unvorstellbar groß und erwachsen. Neben dem Bett standen zwei leere Coladosen. »Wir werden über Geld sprechen müssen, mein Junge«, murmelte sie.
    Helen, die noch in ihrer Arbeitskleidung war, zog sich um und setzte sich dann an den Wohnzimmertisch, las die Zeitung und trank Tee. Immer wieder hielt sie inne und legte den Kopf schief, so als würde sie lauschen. Diese Tage sind schwierig, dachte sie, aber ich werde sie überstehen. Der Tod eines Partners ist nicht die schlimmste Art, auf die eine Beziehung enden kann. Plötzlich wurde Helen klar, dass sie nicht mit ihrem Sohn allein essen wollte. Sie rief einen Kollegen an und weckte den Jungen gegen sieben. »John, mein Schatz, wir gehen zum Essen aus, du hast doch nichts dagegen?«
    Als John ins Wohnzimmer kam, war Kulwant Singh schon da. Ein Sikh. Der junge Mann hatte eigentlich gleich fragen wollen, wie es gewesen war, warum sein Vater so schnell gestorben war, obwohl die Ärzte noch zwei Monate zuvor von einer normalen Lebenserwartung gesprochen hatten; hatte er eine besondere Nachricht für seinen Sohn hinterlassen? Aber Mrs. James scheuchte sie bereits aus der Wohnung; es gab da ein kleines Restaurant, wo sie lange nicht gewesen war, sagte sie. »Wenn ich zu spät esse, funktioniert meine Verdauung nicht richtig.« Dass sie sich so sehr wie immer benahm, machte ihren Sohn perplex.
    Kulwant war ein rundlicher, fröhlicher, grobschlächtiger Mann, der erst kürzlich von einer Reise nach London zurückgekehrt war und sich, wie er erklärte, sehr über die Heirat vonCharles und Camilla amüsierte. »Das ist zu komisch«, sagte er immer wieder beim Essen, »so alte Leute, die heiraten. Wirklich. Zu komisch.«
    Und als säße er mit Elaines Freunden in einem Londoner Pub, begann John, sich über die Absurdität des Königshauses an sich zu ereifern. Unglaublich, schimpfte er, dass sogar Ausländer etwas an dieser Schmierenkomödie finden.
    Einen Augenblick lang schien der indische Arzt gekränkt zu sein – »Inder sind doch keine Ausländer in dem Sinne«, beschwerte er sich. Aber dann beschloss er, Nachsicht walten zu lassen, und sagte schmunzelnd: »Nein wirklich, zu komisch.«
    »Wie alt sind sie eigentlich genau?«, erkundigte sich Helen. Sie wusste es nicht mehr.
    »Ende fünfzig«, sagte Kulwant. »Viel zu alt zum Kinderkriegen, verstehen Sie.«
    »Aber wen interessiert denn ihr Alter?«, beharrte John. »Das Schlimme ist doch die Aufmerksamkeit, die sie von der Presse kriegen, während alle halbwegs begabten Leute total ignoriert werden.«
    »Wir können nicht nur von begabten Menschen reden«, sagte Kulwant lachend, »von denen gibt es nur wenige!«
    Helen aß schweigend und war dankbar, dass niemand Albert erwähnt hatte. Sie selber war dreiundfünfzig.

    »Mir gefällt es hier«, sagte John begeistert, als sie auf der Suche nach einem Taxi ein Stückchen liefen. Kulwant war eilig in einer Autorikscha entschwunden. »Ich mag die Gerüche, die Rikschas und die Tiere.« Er schaute einem Mädchen nach, das seitwärts auf dem Sattel eines Motorrollers saß. »Wirst du hier bleiben?«
    »Warum sollte ich nicht bleiben?«, antwortete Helen. »Ich habe die Klinik. Meine Patienten.«
    »Das freut mich. Wir kommen dich besuchen.« Er meinte Elaine.
    »Du schienst Kulwant nicht besonders zu mögen«, sagte seine Mutter.
    »Nein, nein, er war nett. Es macht mich nur wahnsinnig, mit einem Mann im giftgrünen Turban in einem Restaurant mitten auf dem Subkontinent zu sitzen, irgendein scharf gewürztes Gericht zu essen und dann nur darüber zu reden, ob Harry der Sohn des Butlers ist und Charles wohl die Dreistigkeit besaß, Lady Di zu ermorden.«
    »Worüber wolltest du denn reden?«
    »Keine Ahnung«, sagte John lachend. »Über die Farbe seines Turbans vielleicht. Haben die Farben irgendeine symbolische Bedeutung?«
    »Warum hast du nicht gefragt?«
    Da zog John ein paar Münzen aus der Tasche, um zwei kleine Jungen loszuwerden, die an seinem Ärmel zerrten. Sofort tauchten ein Dutzend weitere auf. Die schlecht beleuchtete Straße war noch voller Menschen. Viele schienen irgendetwas zu transportieren, im Arm, auf dem Kopf, auf Karren und Fahrrädern; es wirkte, als bestünde das Leben aus einem endlosen Hin und Her von sperrigen Paketen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher