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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
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mal spezialisieren. Da ist keine Zeit zum Herumprobieren. Und die Arbeit findet im Labor statt, nicht am Patienten. Die Leidenden bekommt man gar nicht zu Gesicht.«
    Sie saßen schweigend da, Helen am großen Tisch, John mit einem Bein über der Sofalehne, die Cola im Glas schwenkend, als sei es Cognac. Sehr bald, das war ihm klar, würde sie aufstehen und gute Nacht sagen. Seit er denken konnte, hatte seine Mutter lieber am Tisch als im Sessel oder auf dem Sofa gesessen. Wo sie auch wohnten, an einem Ende des Wohnzimmertisches lagen immer ihre Papiere und Briefe, neuerdings auch ihr Laptop, und ein paar Zeitschriften: der Medical Digest , das BMA News and Quarterly . Es war so, als schüfe Helen James sich ein kleines Büro oder ein eigenes kleines Nest innerhalb des größeren Nests ihres Zuhauses.
    Und in der Vergangenheit war natürlich auch Albert anwesend, hörte immer wieder seine Tonaufnahmen ab oder schaute die Videos an, die er aufgenommen hatte, und machte sich unaufhörlich Notizen. Wenn sie nicht in der Klinik war, und er nicht auf einer seiner Forschungsreisen, kam es nur selten vor, dass die beiden sich nicht im gleichen Raum aufhielten. Sie sprachen über seine Ideen. Dad war derjenige, der die Ideen hatte. Er saß meistens auf dem Fußboden und ging Stapel von alten Videoaufnahmen, Büchern und Notizen durch. Das ganze Haus war Alberts Büro, und seine Küche und sein Schlafzimmer. Er zog keine Grenzen.
    »Hör dir das mal an«, sagte er, und dann diskutierten sie über irgendeine Hypothese, hin und her – sie waren sich nur selten einig –, manchmal stritten sie sogar, bis sie aufsprang – sie war eine große, anmutige, athletische Frau –, das Buch, das sie nicht wirklich gelesen, oder den Brief, den sie nicht fertig geschrieben hatte, beiseitelegte und erklärte, sie gehe jetzt ins Bett: »Ich weiß nicht, wie es mit euch ist«, sagte sie dann, »aber ich für meinen Teil muss morgen früh ausgeschlafen sein.« Sie brauchte viel Kraft, sagte sie, für ihre Patienten in der Klinik. Sie musste Krankheiten behandeln und Leben retten. Leute wie sie konnten es sich nicht leisten – aber sie lächelte dabei –, ihre Zeit mit dem Aufzeichnen der Gespräche anderer Leute zu verschwenden.
    Danach saß sein Vater noch eine Stunde oder länger, manchmal auch die halbe Nacht, im Wohnzimmer und schaute sich immer wieder dieselben vier, fünf Minuten des Gesprächs an, das er auf dem Markt, der Bank, im Krankenhaus oder bei einer religiösen Zeremonie aufgenommen hatte, oft genug in einer Sprache, die er gar nicht verstand. Und beim Betrachten rief er »Ha!« oder »Nein! Nein, das ist es nicht«, ohne seinen Sohn auch nur im Geringsten zu beachten, ohne je zu erklären, worauf er aus war oder was das alles sollte. So war John über die Jahre mit allem Möglichen glimpflich davongekommen.
    »Also ich gehe jetzt ins Bett«, verkündete Helen James unvermittelt. Sie stand auf. »Um ehrlich zu sein, John, die letzten beiden Monate waren nicht leicht für mich. Ich muss erst wieder Kraft schöpfen. Und wir haben zurzeit Personalmangel.«
    Ihr Sohn stand auf. Soweit er sich erinnern konnte herrschte an den Arbeitsplätzen seiner Mutter immer Personalmangel. »Hat Dad nichts für mich hinterlassen?«, fragte er.
    Ihr Blick wich dem seinen aus.
    »Ich weiß nicht«, sagte er versuchsweise. Er war sich nicht sicher, ob er zu viel verlangte. »Irgendeinen Rat oder eine Nachricht?«
    Helen James umarmte ihren Sohn ganz fest. Es war ihr erster echter Kontakt. Einer schaute über die Schulter des anderen. »Dein Dad war krank«, flüsterte sie. John drückte seine Wange an ihre. »Zwei Tage vor seinem Tod sagte er: ›Wenn John Zeit hat herzukommen, sieh zu, dass er wenigstens die Sufi-Gräber besucht und wenn möglich nach Agra fährt und sich das Taj anschaut.‹ «
    »O Gott, das ist typisch Dad!« John lachte, aber zugleich weinte er fast. »Wie soll ich das machen? Ich fliege Donnerstag zurück, Mum. Sonst gerate ich mit der Arbeit im Labor in Verzug.«
    »Zwei Tage reichen dicke«, sagte sie. Sie trat einen Schritt zurück und hielt ihn auf eine Armlänge Abstand. In ihren Augen standen Tränen, aber sie lächelte. »Schließlich brauchst du wohl kaum hier bei deiner alten Mutter herumzuhängen, oder?«
    Nachdem seine Mutter zu Bett gegangen war, zappte John sich durch die Fernsehkanäle. Wieso habe ich mich wegen Charles und Camilla eigentlich so aufgeregt? fragte er sich. Er war jetzt hellwach und ein
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