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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren
Autoren: Tim Parks
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sich zu leben lohnte. Sie hatte einen tollen Sohn, John James. Er ist heute auch hier. Er ist ein feiner junger Mann. Sehr intelligent. Wir können uns seine Trauer vorstellen. Sie hatte warmherzige Freunde. Viele ihrer Freunde sind heute hier. Ich wünschte nur,Helen hätte sich auf uns verlassen, wie die anderen sich auf sie verlassen haben, immer. Gott kann das nicht gewollt haben«, sagte der Sikh mit plötzlicher abschließender Vehemenz. »Gott mag solche hässlichen Tode nicht.«
    Einen Augenblick lang schien Kulwant nicht in der Lage zu sein, weiterzusprechen. Er machte den Mund auf, schloss ihn wieder, machte ihn auf. »Ich werde Helen sehr vermissen. Sehr.« Der stattliche Mann drehte sich unvermittelt um, kniete nieder, presste sein Gesicht an den Sarg und küsste ihn.
    John legte den Kopf in seine Hände. Er war verwundet, gelähmt und sprachlos. Er schaute nicht hoch, als der Sikh das Podium verließ und die kleine Gemeinde erneut wohlwollend applaudierte. Er schaute nicht hoch, als der ältliche Dr. Yellaiah erzählte, dass Helen, wenn das Budget der Klinik für Medikamente bereits ausgeschöpft war, selber für die Behandlungskosten der Patienten aufkam. »Sie bezahlte mit ihrem eigenen Geld, oder dem ihres Mannes. Auch im Falle des armen Jungen, der mit ihr gestorben ist«, fuhr der Doktor mit dünner, hoher Stimme fort, »hat Helen James für spezielle Antibiotika bezahlt, von denen wir hofften, sie würden die Resistenz des Erregerstammes, der bei dem Jungen für die Erkrankung verantwortlich war, überwinden.«
    John schaute nicht hoch. Gefangen in dem Gesamtgefüge, dem Déjà vu, saß er nur still und stumpf da, während nun der Mann vom British Council ein paar diskrete Worte sagte und anschließend Aradhna Verma fünfzehn endlose Minuten lang über Helens Engagement für die arme Landbevölkerung und diverse andere Projekte sprach, die zurzeit von der Gandhi Society unterstützt wurden, die eventuelle großzügige Spenden der Anwesenden gerne entgegennehmen würde. Selbst in dem schrecklichen Moment, als der Sarg verschwand, schaute John nicht hoch. Er saß stocksteif.
    »Zeit zu gehen«, sagte Elaine und zupfte ihn am Ärmel.
    Er rührte sich nicht.
    »Da ist ein Mädchen, das mit dir sprechen möchte.«
    John war wie versteinert. Elaine lächelte dem indischen Mädchen zu und zuckte die Achseln, und Jasmeet drehte sich um und lief eilig hinter ihrem Vater her.
    »John, gleich kommt die nächste Gruppe. Wir müssen jetzt wirklich gehen.«
    Dann würde John eben zur nächsten Bestattung dableiben. Er würde einfach zu allen Bestattungen bleiben.
    Alle waren jetzt aufgestanden. Die meisten waren schon am Ausgang und traten in den stickigen Tag hinaus. Dann kam Paul Roberts noch einmal herein und lief schnell den Gang entlang zu der Bank zurück, wo Elaine bei ihrem Freund stand. »Wir sollten jetzt gehen«, sagte er. Elaine machte ein verzweifeltes Gesicht. John saß einfach da. Sein Nacken war gebeugt, das Gesicht hatte er in den Händen vergraben.
    »Wenn John einverstanden ist«, sagte Paul behutsam, »und die Asche fertig ist, werde ich dafür sorgen, dass sie in den Fluss gestreut wird, wie sie es, glaube ich, auch mit Alberts Asche gemacht hat.«
    »Nein.« John richtete sich auf und wandte sich ihm zu. »Nein. John ist nicht einverstanden. Die Asche bleibt im Krematorium.«

    Die restlichen Stunden vor dem Flug waren für Elaine Stunden der Angst. Die Ereignisse hatten ihr jeglichen sicheren Anhaltspunkt geraubt. Als sie nach Indien abgereist war, hatte sie ihre Eltern gebeten, nicht anzurufen und sich auch sonst nicht mehr in ihr Leben einzumischen, und sie hatten es nicht getan. Sicher waren sie wütend, und während dieser Gedanke ihr auf dem Hinflug ein Gefühl der Genugtuung beschert hatte, erfüllte er sie jetzt mit Sorge. Hanyaki dagegen hatte ihr tagelang fast stündlich eine Nachricht geschickt. Er brauchte sie zur Premiere. Aber am Tag der Bestattung hatten seine Nachrichten aufgehört.Vielleicht hatte er jemand anderen gefunden. Und jetzt redete John gar nicht mehr mit ihr. Sie war seinetwegen hierher gekommen, aber er war nicht mehr der Junge, den sie in Maida Vale gekannt hatte; er war nicht mehr der junge Doktorand, die sichere Adresse, der beständige Freund. »Was ist los, John?«, fragte sie ihn. Sie fühlte sich verletzlich. »Was ist passiert?« Er biss sich auf die Lippen und knirschte mit den Zähnen.
    Elaine war ratlos. John ging von einem Zimmer ins andere, planlos,
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