Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
1.
    Die erste Frage war natürlich, was er auf der Autobahn getan hatte.
    Drei Kilometer nördlich der Ausfahrt Rostock Südstadt, nach der Warnowtalbrücke, abends gegen neun Uhr.
    Der Fahrer des Unfallwagens sagte, er sei einfach in der Dämmerung aufgetaucht, plötzlich, ohne Vorwarnung, aus dem Nichts. Er habe, sagte er, das Steuer gerade noch herumreißen können, nicht weit genug herum, und er habe eine Vollbremsung hingelegt, aber das ist nicht wahr, denn bei einer Vollbremsung hätte der Wagen sich überschlagen, bei der Geschwindigkeit; schließlich war es die Autobahn.
    Der Fahrer des Unfallwagens hätte alles gesagt, um seine Haut zu retten, er hätte auch gesagt, die Gestalt, die sein Wagen erfasst hatte, sei vom Himmel gefallen. Er war zu schnell, sicherlich war er zu schnell. Auch auf der Autobahn gibt es Geschwindigkeitsbegrenzungen.
    Der Wagen, ein silberner BMW, geriet durch die Bremsung ins Rutschen, er erfasste den Körper von der Seite und schleuderte ihn gegen die linke Leitplanke, wo er ein zweites Mal mit ihm kollidierte, so dass er zwischen der zerquetschten Hintertür und der Leitplanke eingeklemmt wurde, zwischen einundzwanzig Uhr und einundzwanzig Uhr fünfzehn. Der Krankenwagen und die Polizei waren gegen einundzwanzig Uhr dreißig vor Ort. Sie mussten den Fahrer des Wagens aus dem Auto schneiden, aber bis auf Prellungen vom Airbag hatte er keine Verletzungen. Gegen dreiundzwanzig Uhr fanden sie in der Klinik das blaue Plastikportemonnaie mit dem Fahrausweis.
    Die erste Frage war, was er auf der Autobahn getan hatte.
    Aber das war nicht die erste Frage, die Claas stellte, als sie anriefen.
    Seine erste Frage war: »Aber er lebt?« Sekunden später legte er das Telefon auf.
    Er sagte nicht: »Setz dich« zu mir, oder: »Du musst jetzt stark sein«. Er drehte sich nicht einmal zu mir um. Er sah aus dem Fenster. Draußen lag der Garten, dunkel und duftend von Flieder und Frühlingserde.
    Ich rieche die Erde noch immer, seltsam, all diese unwichtigen Details haben sich in mein Gedächtnis gegraben und sind nicht mehr daraus zu löschen.
    Claas holte tief Luft. Und dann sagte er jene knappen, präzisen Worte, die ich nie vergessen werde, jene Worte, die sein Umriss wurden, sein Schatten, sein Mantel und sein Gesicht. Jene Worte, die ich, zusammen mit ihm, hassen lernte. Er sagte:
    »David hatte einen Unfall. Auf der A 20. Er ist nicht bei Bewusstsein, aber er lebt. Sie haben ihn nach Rostock gebracht. Wir fahren sofort los.«
    Fünf Sätze, konzentrierte Information, vernünftig, erwachsen. Ohne Emotion. Etwas in mir wollte zusammenbrechen, wollte schreien, wollte etwas Irrationales tun, aber Claas’ Worte verboten es mir.
    Ich stieg ohne Mantel ins Auto, nur im T-Shirt, obwohl der Wind kalt war für Anfang Mai. Ich weiß noch, dass die Frösche vom Bach her quakten und dass ich die Fliederhecke roch. Und dass beim Ortsausfahrtsschild René stand, der immer allen Autos winkt, und dass er winkte. Und dass ich auf dem Weg durch die Felder die einsame Spaziergängerin sah, die wir nur die einsame Spaziergängerin nannten, weil keiner ihren Namen wusste. Ihr langes, glattschwarzes Haar wehte hinter ihr her, und sie schien mir an diesem Tag noch unwirklicher als sonst, weil alles, der ganze Frühling, plötzlich unwirklich geworden war.
    Ich schaffte es nur mit Mühe, mich anzuschnallen, das Gurtsystem erschien mir mit einem Mal unsagbar kompliziert.
    »Auf der A 20?«, fragte ich im Auto. »Warum auf der A 20? Wie ist er da hingekommen? Wer hat ihn, besser gesagt, da hingebracht? Und warum?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Claas. Mehr sagte er die ganze Fahrt über nicht.
    Ich sah ihn an, von der Seite, seinen Schattenriss im dunklen Auto, den ich so gut kannte. In jener Nacht schien er mir fremd. Ich war ganz allein im Auto, allein mit meiner Angst. Allein mit dem Frühjahr und der Frage, was auf der A 20 und was zuvor geschehen war. Zwischen ein Uhr mittags, als David zuletzt von einem Freund gesehen worden war – und jenem Moment, in dem er in der Dämmerung plötzlich auf der Autobahn gestanden hatte, drei Kilometer nach der Ausfahrt Rostock Südstadt. Mitten auf der Fahrbahn, sagte der Fahrer später zu uns, während er versuchte, meine Hand zu schütteln.
    Seine Hände waren sehr groß.
    Sein Lächeln war dünn und faserig im grellen Licht des Klinikflurs.
    »Hören Sie doch auf zu lächeln!«, wollte ich schreien.
    Entschuldigen Sie, ich erzähle nicht ganz geradeaus. Es fällt mir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher