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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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Stapel Papier, weiß und unbenutzt.
    Ich spannte eine neue Seite ein und tippte den Buchstaben D. Dann ein A. Es war nicht leicht, man musste wirklich auf die Tasten schlagen. V.I.D.
    Einen der Computer im Haus zu benutzen wäre bedeutend einfacher gewesen.
    Aber Davids Projekte zeichneten sich nicht durch Einfachheit aus.
    Auf den Regalen standen die stummen Zeugen anderer Projekte: ein Album mit Briefmarken, die er selbst entworfen, ausgeschnitten und mit gefälschten Stempeln versehen hatte – alles Einzelstücke, hatte er gesagt, die haben einen Tauschwert, das glaubst du nicht. Er hatte sie allerdings nie getauscht. Daneben das mit Draht zusammengefügte Skelett eines Otters, den er überfahren auf der Straße gefunden und zwei Wochen lang in ungelöschten Kalk gelegt hatte, um das Fleisch von den Knochen zu befreien. Dreizehn Würfel mit farbigen Seitenflächen, die ich für ihn hatte durcheinanderdrehen müssen, damit er die Farben durch erneutes Drehen wieder ordnen konnte. Am Ende hatte er es auf eine Zusammenbaudauer von einer Minute dreißig gebracht. Doch das war drei Jahre her. Die Zeiten, in denen ich neben ihm gesessen und ihm bei seinen Projekten geholfen hatte, waren vorbei.
    Irgendwo ganz unten im Regal stand ein kleines Bild, das uns zusammen zeigte, draußen im Garten, beim Bau eines Modellflugzeugs. Das Bild war kein Foto, sondern ein Ölbild, auch wenn es nach Vorlage eines Fotos entstanden war. Neben dem Modellflugzeug-Bild stand ein weiteres, auf dem David auf Claas’ Schultern saß. Ich fragte mich, ob er die Bilder in der letzten Zeit noch angesehen oder ob er vergessen hatte, dass sie da waren, weil sie immer schon da waren.
    Die Bilder waren mein Projekt. Mein Lebensprojekt.
    Unser Haus war voll von ihnen – die meisten waren eher abstrakter Natur. Deine kleinen grauen Kästchen, hatte David immer gesagt.
    Lovis Berek stand unter den Bildern, und Lovis Berek stand auch auf den Katalogseiten der Galerien, in denen ich ausstellte. Vielleicht haben Sie von Lovis Berek gehört. Lovis Berek war einmal sehr erfolgreich. Vor dem zweiten Mai, an dem ihr Sohn auf der A 20 einen Unfall hatte, den sich niemand erklären konnte. Lovis Berek hat vielleicht, möglicherweise, vermutlich … zu viel Zeit mit ihren Bildern und ihren Ausstellungen und zu wenig Zeit mit David Berek verbracht.
    Ich setzte mich auf Davids Bett und legte mir seine Decke um die Schultern, und es war, als könnte ich seine Wärme noch spüren. Das Zittern verließ mich, und ich saß eine Zeitlang ganz still auf der Bettkante. Wovon hatte David geträumt, in der Nacht vor dem Unfall? Hatte etwas ihm Sorgen bereitet, etwas ihn sich im Schlaf herumwälzen lassen? Etwas, das dazu geführt hatte, dass er am nächsten Tag nach der Schule nicht in den Bus gestiegen war, um nach Hause zu fahren?
    Zuerst waren wir davon ausgegangen, er hätte nach der Schule einen seiner Freunde besucht und vergessen, Bescheid zu sagen. Wir? Ich war davon ausgegangen.
    Claas war nicht zu Hause gewesen, natürlich, Claas war wie immer erst abends gekommen, um kurz nach zehn, Stunden nach seinem regulären Dienstschluss. Er hatte mich im Flur gefunden, das Telefon in der Hand.
    »Nichts«, hatte ich gesagt, ich hörte meine Worte noch in dem zu leeren, David-losen Haus hallen, ich sah noch Claas’ verständnisloses Gesicht, das Grau in seinen Augen müde nach einem Kliniktag. »Ich habe die Polizei noch einmal angerufen. Ich habe sie schon dreimal angerufen, das erste Mal um fünf. David … David ist nicht nach Hause gekommen. Ich habe nicht nur die Polizei angerufen. Ich … ich habe jeden angerufen, der mir eingefallen ist, die Schule, und Peter aus seiner Klasse, und Finn, und Davids Handy, natürlich, aber er geht nicht ran, und sogar den Fußballclub, ich dachte, vielleicht ist ein Spiel oder Training und ich habe es vergessen, aber er war nicht dort, sie haben eine Vermisstenmeldung im Radio gebracht, sie melden sich, wenn sie etwas wissen, sie melden sich …«
    Dann war ich in die Küche gegangen und hatte mir ein Glas Wein eingegossen, randvoll, und es ausgetrunken. Claas war mir nachgekommen.
    »Lovis«, hatte er gesagt, ganz leise, »du hast jeden angerufen … warum hast du mich nicht angerufen?«
    Ich habe ihm die Frage nie beantwortet. Denn in diesem Moment, fünf Minuten nach meinem Gespräch mit der Polizei, klingelte das Telefon. Und das war die Klinik in Rostock, und Claas hob ab und lauschte und sagte jene nüchternen,
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