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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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passte. Und dann hatte er, weil irgendetwas ihn ablenkte, den Schlüssel zum Bad im Bad verloren und aus dem Fenster steigen müssen, im ersten Stock. Er hatte eine der beiden Kastanien benutzt, die dort wuchsen, um hinunterzuklettern. Den Badezimmerschlüssel haben wir nie wiedergefunden.
    »Lovis?«, fragte Claas und fand endlich den richtigen Schlüssel. »Du guckst mich so an. Stimmt etwas nicht?«
    »Ich dachte an David«, sagte ich. »Und an … Kastanien …«
    Dann ging ich voraus in den Vorflur, in dem es nach nassem Hund und Erde roch. Die Tür, die den Vorflur vom eigentlichen Flur trennte, hatte Scheiben aus farbigem Glas, die das graue Licht in helle Flecken verwandelten. Das Haus war alt, einst war es das Pfarrhaus des Dorfes gewesen. Jetzt gab es seit langem keinen Pfarrer mehr. Tauben nisteten in der kleinen Feldsteinkirche, deren Friedhof ganz hinten an unseren Garten grenzte. Ich erinnerte mich daran, wie David einmal die Inschriften aller Grabsteine mit einem weichen Bleistift abgepaust hatte – eines seiner abstrusen Projekte. Die Kirche und der Friedhof hatten ihn immer schon fasziniert, vielleicht gerade, weil wir nicht religiös waren.
    »Du solltest dich hinlegen«, sagte Claas und nahm mir die Jacke ab. Es war seine Jacke, er hatte sie mir im Auto zuvor umgelegt, weil ich meine eigene vergessen hatte.
    Einen Moment lang wünschte ich, er würde die Jacke auf den Boden fallen lassen und mich in den Arm nehmen. Aber er tat es nicht, und ich hörte wieder auf, es mir zu wünschen.
    »Und du?«, fragte ich.
    Er sah auf die Uhr. Claas war einer der wenigen Menschen, die nicht ihr Handy zückten, wenn man sie nach der Uhrzeit fragte, sondern tatsächlich noch eine Armbanduhr besaßen.
    »Ich muss in die Klinik«, sagte er. »Ich habe vorhin schon angerufen und ihnen gesagt, dass ich später komme. Sie warten mit der Visite.« Er fischte seine Tasche von einem der altmodischen Holzhaken an der Wand.
    »Gibt es keine anderen Oberärzte, die deine Arbeit machen können?«, fragte ich müde.
    Er hatte die Haustür schon wieder geöffnet, ein kalter Wind strich in den Vorflur. Einen Moment blieb Claas in der offenen Tür stehen.
    »Soll ich hierbleiben?«
    Und beinahe hätte ich ja gesagt. Bleib bei mir. Hilf mir, das Rätsel zu lösen, wie David auf die Autobahn kam. Hilf mir, in diesem Haus zu sein, das nur noch ein Erinnerungsgefäß ist. Hilf mir, endlich zu weinen.
    »Nein«, sagte ich. »Geh ruhig.«
    Er nickte, Besorgnis im Blick. Kurz darauf hörte ich draußen den Motor starten. »Es ändert ja nichts«, sagte ich laut zu keinem Claas mehr.
    Dann ging ich durch die Buntglastür ins Haus, frierend, die bloßen Arme zitternd um mich geschlungen, und sah die alte Holztreppe hinauf. Das Haus war mit einem Mal riesig. Und ich war darin ganz allein.

    Ein Gefäß der Erinnerung.
    Davids Zimmer lag oben, unter dem Dach. Ich stieg die breite Holztreppe langsam hinauf, und als ich vor seiner Tür stand, hatte ich beinahe Angst, sie zu öffnen.
    »Eintreten nur nach Aufforderung« stand auf einem Blatt an der Tür, maschinengeschrieben. Vor einem Jahr hatte David Claas’ alte Schreibmaschine im Schuppen gefunden, und wir hatten sie gemeinsam hinauf in sein Zimmer geschleppt.
    »Wozu brauchst du diese Schreibmaschine?«, hatte ich gefragt, und er hatte mich ernst angesehen und geantwortet: »Für die Dokumentation eines Projekts. Es sollte autistisch aussehen.«
    »Meinst du authentisch?«, hatte ich gefragt.
    »Vielleicht«, hatte David gesagt.
    Er hat sich immer bemüht, dem Klischee des zerstreuten Professors zu entsprechen und möglichst viele Fremdwörter zu benutzen. Leider war er meistens zu zerstreut, um sie sich richtig zu merken.
    »Jetzt musst du gehen«, hatte er gesagt, nachdem wir die Maschine auf den Schreibtisch gehievt hatten. »Ich würde wirklich gerne mehr Zeit mit dir verbringen, Lovis, aber ich habe zu arbeiten.«
    Ich lächelte, als ich daran dachte. Eintreten nur nach Aufforderung.
    Ich trat ein, unaufgefordert, und hoffte, dass er mir vergeben würde.
    Das zähe Regenlicht tropfte auch hier durchs Fenster und durchnässte den bunten Webteppich auf dem Dielenboden. Das Fenster befand sich in der geschwungenen Dachgaube, vor der Davids Schreibtisch stand. Darauf thronte, schwarz und unnahbar wie der Monolith aus dem Film 2001, die Schreibmaschine. Ich trat an den Schreibtisch heran. Ein Kinderschreibtisch. Die Maschine nahm beinahe den ganzen Platz darauf ein. Daneben lag ein
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