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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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bewegte.
    »Er hat Glück gehabt mit dem Auge«, sagte ich, um irgendetwas Positives zu sagen.
    »Ja«, sagte der Arzt, der neben uns stand – ich hatte ihn bisher kaum bemerkt, »Glück. Mit dem Auge.«
    »Wann wird er zu sich kommen?«, fragte ich, so leise, als würde ich es gar nicht wirklich fragen.
    »Das können wir nicht sagen«, antwortete der Arzt. »Man wird sehen.«
    »Ist das … ein … wie sagt man … künstliches Koma? Durch Medikamente?«
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Aber wir sollten uns woanders darüber unterhalten. Kommen Sie mit ins Arztzimmer.«
    Claas legte mir eine Hand auf die Schulter, jetzt also doch, und ich schüttelte sie ab.
    »Geh du mit ihm«, sagte ich. »Ich bleibe hier. Ich bleibe bei David.«

    Als sich die Tür hinter den beiden schloss, rückte ich mir einen Stuhl heran und setzte mich so nah ans Bett, wie die Geräte und Schläuche es erlaubten. Und ich dachte: Jetzt kann ich ja weinen, wo sie gegangen sind. Doch ich weinte nicht.
    Ich hielt nur Davids Hand, ganz behutsam, und sah sein blasses Gesicht an und die drei Strähnen seines rötlichen Haars. Goldhaar hatten wir immer gesagt, unser Prinz Goldhaar. Eine Schwester kam herein, tat irgendetwas mit den Geräten und ging wieder. Ich sah sie nur als Schemen. Ich wusste nicht, wie lange ich bei David saß und wie viele Leute hereinkamen und leise miteinander sprachen und wieder hinausgingen, ich blendete sie alle aus, ich war allein mit David.
    Ich erinnerte mich genau daran, wie ich ihn zum ersten Mal im Arm gehalten hatte. Er hatte damals schon dieses goldene Haar gehabt, er war damit geboren worden. Seine Augen hinter den geschlossenen Lidern waren grün, grün wie die Wellen des grünen Meeres am Steg bei unserem Haus.
    Auch seine Nase trug eine Schürfwunde. Glück, dachte ich wieder, er hat Glück gehabt. Es hätte schlimmer sein können, viel schlimmer, hundertfünfzig Stundenkilometer und ein Kindergesicht … Ich wollte nicht daran denken.
    Ich dachte daran, wie wir uns gestritten hatten. Hatte sein Verschwinden etwas damit zu tun gehabt? Wir hatten oft gestritten in der letzten Zeit. Über scheinbar belanglose Dinge. Einmal war David so wütend geworden, dass er die alte Petroleumlampe vom Regal gehoben und zu Boden geschleudert hatte, wo sie in tausend Scherben zersprungen war. Und ich wusste nicht einmal, was ihn so wütend gemacht hatte.
    Er war schon immer ein emotionaler kleiner Mensch gewesen, mein Goldhaarjunge mit den grünen Meeresaugen. Aber in der letzten Zeit war es schlimmer geworden. In der letzten Zeit war er … seltsam gewesen. Wirklich seltsam.
    Das ist die Pubertät, hatten wir zueinander gesagt, Claas und ich, und gelacht. Kommt etwas früh. Bei einem Kind wie David ist eben nichts gewöhnlich …
    Nein, gewöhnlich war er nicht. Er besuchte die vierte Klasse der Montessorischule, aber er hätte die sechste besuchen können. Wir hatten uns geweigert, ihn in eine höhere Klasse springen zu lassen. Wir hatten nicht gewollt, dass er ein Stück seiner Kinderzeit verlor. Wir hatten auch keine Berechnungen und Tests gewollt, die über seinen IQ spekulierten. Er konnte schneller kopfrechnen als ich. Er brachte sich selbst Latein und Japanisch bei. Er las wissenschaftliche Texte über Amöben, oder er schrieb welche, wenn es ihn packte.
    Er war unser Kind. Das war alles, was zählte.
    Und dennoch, dachte ich, habe ich ihn verloren. Neben dem weißen Klinikbett dachte ich diesen Gedanken zum ersten Mal. Es war ein schrecklicher Gedanke. Ich hatte mir nicht mehr genug Zeit genommen, David war mir entglitten, langsam, aber stetig.
    Und weil ich nicht über diese Tatsache nachdenken wollte, dachte ich über das oberflächlich Wichtige nach, das eigentlich unwichtig war.
    »Was ist passiert?«, flüsterte ich noch einmal. »Wie bist du auf die Autobahn gekommen, David? Hat jemand dich gezwungen, zu ihm ins Auto zu steigen? Bist du vor etwas weggelaufen? Oder wolltest du irgendwohin? Und wenn ja, wohin? Und weshalb?«
    Er stand auf einmal da, hatte der Fahrer des BMW gesagt. Wie aus dem Erdboden gewachsen. Mitten, wirklich, mitten auf der Fahrbahn. Da war niemand, und dann war ER da, es war direkt unheimlich …
    Wenn ich herausfinde, was geschehen ist, wacht er auf.
    Dann findet er zurück zu mir, zu uns. Dann wird alles gut.

    Fahren Sie nach Hause, hatte der Arzt gesagt.
    Nach Hause.
    Das Wort erschien mir leer und verbraucht wie die Luft im Auto. Zu Hause war ein Ort, an dem David gewesen
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