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Kinderstation

Kinderstation

Titel: Kinderstation
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Keiner hatte es bemerkt, weder der Nachtwächter, der von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens im Glaskasten der ›Aufnahme‹ saß, einen Kriminalroman las, um 3 Uhr, bei Erreichen seines toten Punktes, starken Bohnenkaffee aus der Thermosflasche trank und ein Butterbrot mit gekochtem Schinken dazu aß, noch die Nachtschwester, die dreimal gerufen wurde, weil auf der Wachstation, wo die Frischoperierten lagen, einige Kranke unruhig wurden und einer starb. Auch der Nachtarzt hatte nichts gesehen. Er pendelte in den Krankenzimmern von Bett zu Bett, stellte auf Station I, Zimmer 12, den Tod durch Kreislaufschwäche fest und legte sich dann wieder auf seine Couch, ärgerlich, daß er hier herumliegen mußte, statt sich angenehmer mit seiner Braut Veronika zu beschäftigten.
    Auch bei der Einlieferung eines akuten Blinddarms – Berichtsbuch: Appendicitis, 0.12 Uhr Einlieferung, aufnehmender Arzt Dr. Wollenreiter, gelegt auf Zimmer 19 privat – hatte niemand es gesehen, was bewies, daß um 0.13 Uhr noch nichts geschehen war.
    Erst um 6 Uhr, als die Schwestern den Dienst wieder übernahmen und, gestärkt durch Morgenkaffee und Frühgebete, die Stationen besetzten, entdeckte Schwester Angela vor dem Eingang das kleine, verschnürte Bündel. Es lag links neben der zweiflügeligen Tür, direkt unter dem großen Messingschild mit der aus Metall gehämmerten, erhabenen und vornehmen Schrift ›Kinderklinik Bethlehem‹. Das Bündel bewegte sich kaum merklich. Schwester Angela hätte es auch gar nicht beachtet, wenn es sich nicht bewegt hätte. So aber bückte sie sich, legte die frische Hand darauf und fuhr erschrocken zurück.
    Der Nachtwächter Hubert Bramcke packte gerade seine Thermosflasche in die Aktentasche und gähnte in wohlverdienter Müdigkeit, als Schwester Angela in die Aufnahme stürzte und atemlos ausrief:
    »Vor der Tür liegt ein Kind!«
    »Kann's nicht mehr laufen?« fragte Nachtwächter Bramcke gemütlich. Er war ein abgeklärter Mann, den keine noch so wilde Aufregung erschütterte. Als Nachtwächter muß man so sein – früher galten die Schäfer als Philosophen, heute sind's die Nachtwächter. Wo gibt es denn noch Schäfer?
    »Begreifen Sie doch! Ein Säugling liegt vor der Tür!«
    Bramcke sah Schwester Angela erstaunt an. »Der kann doch noch gar nicht laufen«, sagte er tadelnd.
    »Ach Sie!« Schwester Angela warf beide Arme hoch und rannte aus dem Glaskasten der Aufnahme. Sie traf auf Dr. Wollenreiter, der mißmutig aus dem Arztzimmer kam und Durst hatte. »Ein Kind!« rief sie und zeigte auf die große Eingangstür. »Dort liegt ein Kind, Herr Doktor.«
    »Wo?«
    »Draußen!«
    »Warum denn das? Lassen Sie das Kind doch herein!« Er streckte sich wie ein erwachender Hund und hielt die Hand vor den Mund, als er – wie Bramcke – gähnte.
    »Das Kind ist eingewickelt, in eine Decke –«, keuchte Schwester Angela.
    Dr. Wollenreiter nickte böse. »Natürlich. Im Herbst trägt man keinen Bikini mehr.«
    »Es ist ausgesetzt – ausgesetzt …« Schwester Angela faltete die Hände über der hellblauen Schürze. Ihr Gesicht, unnatürlich schmal in der weißen Haube und dem langen, flatternden Überwurf, war bleich und zuckte. Dr. Wollenreiter seufzte und rannte zur Tür. Dort stand schon Nachtwächter Bramcke und starrte auf das Bündel unter dem Messingschild.
    »Ein Kind –«, sagte er entgeistert, als der Arzt neben ihm stand. »Man hat uns ein Kind gebracht –«
    »Ein Mist ist das!« Dr. Wollenreiter bückte sich, nahm das Bündel und entdeckte unter der zusammengerollten Decke noch eine Einkaufstasche. Er trug das Bündel, das jetzt zu zappeln begann und aus dem leise, klagende, wimmernde Töne quollen, durch die Halle in das Untersuchungszimmer und löste die beiden Knoten des Bindfadens, mit dem die Decke zugeschnürt war. Schwester Angela und Nachtwächter Bramcke standen daneben, sprachlos vor Staunen.
    »So was liest man sonst nur in Romanen …«, stotterte Bramcke. Er hatte vergessen, daß er müde war, daß er sich nach seinem Bett sehnte und nach der Wärme seiner Frau Erna, die noch eine halbe Stunde neben ihm liegen blieb, wenn er nach Hause kam, um ihm das Gefühl ehelicher Zufriedenheit zu geben. »Was ist's denn nun? Mädchen oder Junge?«
    Dr. Wollenreiter schwieg verbissen. Mist so was, dachte er wieder. Das wird einen Rummel geben im Bau. Der Ober wird kommen, der Chef wird toben, die Polizei wird untersuchen, Verhöre, Protokolle und die dummen Witze des Chefs: »Was haben Sie eigentlich
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