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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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Ferne meine ich meinen alten Schulfreund Heinrich zu sehen. Was nicht sein kann, denn schon mit achtzehn musste er das Leben verlassen. Ich streune durch das Gras und denke darüber nach, ob Paulchen wohl eine Seele hatte. Der Himmel wird dunkler.
    Zwei Raben fliegen über mich hinweg. Und dann verliere ich von einer Sekunde auf die andere mein Augenlicht und habe das Gefühl, von innen heraus zu verbrennen ...
     

    Dies war wohl der Moment des Blitzschlages. Wobei der Blitz mich nur gestreift hatte. Wäre ich von ihm direkt getroffen worden, ich hätte es nicht überlebt. Zwei Engel standen mir an jenem Nachmittag zur Seite. Der eine warf geistesgegenwärtig den Blitz ein paar Millimeter (oder Zentimeter, ich weiß es nicht) aus seiner Bahn, und der andere hieß Frau Kecker und alarmierte sofort nach dem Unfall den Rettungsdienst. Frau Becker war die Dame mit den Rottweilern. Von weitem hatte sie alles beobachtet und erzählte mir später, dass der Blitz genau über mir aus dem Himmel gefahren sei und mich während des Gehens am Kopf erfasst zu haben schien. Das würde erklären, warum meine Haare am Hinterkopf allesamt verbrannt waren und ich auf meinem rechten Ohr so gut wie gar nichts mehr hören konnte. Nach der Blitzberührung sei ich wie von Sinnen in die Luft gesprungen, hätte einen gellenden Schrei ausgestoßen und soll schließlich mit heraushängender Zunge zu Boden gestürzt sein. Dort lag ich dann bewusstlos - und Frau Becker vermutete zu diesem Zeitpunkt das Schlimmste. Nach etwa fünfzehn Minuten war der Notarzt zur Stelle, beruhigte meine Retterin und veranlasste meine sofortige Einlieferung in die nächstgelegene Klinik.

3

    Als Anna mein Krankenzimmer betrat, war ich schon recht stabil. Ich hatte mich geordnet, und meine Wahrnehmung funktionierte wieder. Ich wusste, wer ich war, wo ich mich befand, warum mir mein Körper wehtat - und ich hatte die Geschehnisse des Vortages begriffen. Eine euphorische Freude allerdings, mit dem Leben davongekommen zu sein, empfand ich nicht. Zu stark wirkte die Irritation nach, die während meines kurzen Gespräches mit dem Arzt aufgekommen war. Ich hatte etwas gehört, was ich mir nicht erklären konnte ...
     

    War mein Gehirn wirklich unversehrt geblieben? Oder hatte die Elektrizität doch eine Schädigung verursacht - und ich war zu einem Fall für die Psychiatrie geworden? Hörte ich jetzt Stimmen? Halluzinierte ich? Oder war alles auf eine nur kurzzeitige Verwirrung meines Geistes während der Aufwachphase aus der Bewusstlosigkeit zurückzuführen?
     

    Anna stand mit ernster, aber dennoch glücklicher Miene in der Tür. »Mein Gott, Bärmann ...«, sagte sie und zog dabei die Tür leise und vorsichtig hinter sich zu.
    »Bärmann« war einer ihrer Kosenamen für mich.
    Es ist mir peinlich, dies hier preiszugeben. Denn Kosenamen dieser Art sind meiner Meinung nach nicht für fremde Ohren bestimmt. Außerhalb der Intimität zweier Menschen wirken sie fast immer albern, trivial oder einfallslos.
    So empfinde ich es zumindest. Aber der Ordnung halber möchte ich alles so erzählen, wie es sich tatsächlich zugetragen hat.
     

    »Mein Bärmann, du wärst fast gestorben! Aber jetzt ist alles okay. Ich habe vorhin mit Dr. Bauer telefoniert. Er sagte, alle schlimmen Befürchtungen hätten sich zerschlagen, dir ginge es bestens, und vielleicht kannst du in ein paar Tagen schon nach Hause kommen.«
     

    Anna hatte sich auf die Bettkante gesetzt und meine Hand genommen.
    »Wie fühlst du dich?«
    »Recht gut«, antwortete ich und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Im selben Moment jedoch zuckte ich zusammen, denn plötzlich wurde mir abwechselnd blau und rot vor Augen. Ich schnellte zurück, kniff ein paarmal meine Lider fest zu und bemerkte dabei mit großer Verwunderung, dass nicht meine Augen das Rot und das Blau sahen, sondern die Farben sich vielmehr in meinem Inneren zeigten, so als würde ich sie mir sehr intensiv vorzustellen versuchen. Nur - all das geschah ohne mein Zutun und ich konnte mich dieser Wahrnehmung auch nicht erwehren.
    »Was ist los?«, fragte Anna besorgt. »Ist dir schwindelig?«
    »Nein, nein, alles in Ordnung«, log ich, trank etwas Tee und zog das Kopfteil meines Bettes so weit nach oben, dass ich auf meinem Krankenlager bequem sitzen konnte. Die Visionen von Blau und Rot allerdings ließen mich nicht los.
    Ich saß nun also in meinem Bett und wollte so tun, als wäre alles völlig normal. Was mir jedoch nicht gelang. Mein Herzschlag
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