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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser
Autoren: Jürgen Domian
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entschieden.
     

    Nachdem unsere Kinderlosigkeit besiegelt war, begehrten wir einander immer seltener. Die in mir aufkeimende Vermutung, unsere Leidenschaft sei wohl all die Jahre ausschließlich zweckorientiert gewesen, schob ich rasch beiseite und ignorierte sie schließlich. Klar war mir nur, dass mein sexuelles Verlangen nach Anna gegen null tendierte und ich mich eigentlich damit abgefunden hatte. Und da auch sie keinerlei Anstalten unternahm, neuen Schwung in unser Intimleben zu bringen, glaubte ich, ihr erginge es ebenso. Merkwürdig war allerdings, dass wir nie darüber sprachen. Wir herzten und streichelten uns innig, so wie immer, wir erfanden, wie auch in früheren Zeiten, stets neue und überaus zärtlich gemeinte Kosenamen, und allnächtlich schmiegten sich unsere Körper aneinander. Vermutlich versuchten wir so vergessen zu machen, dass das Feuer in uns längst niedergebrannt war.
     

    Anna arbeitete als Psychologin in einer Beratungsstelle für schwer erziehbare Kinder. Sie war keine schöne Frau, und das Alter setzte ihr schon früh sichtbar zu. In ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr verwandelte sich ihr Gesicht binnen weniger Monate. Was ich erschreckend fand. Aus meiner jungen Frau Anna wurde eine faltige Person, die durchaus mindestens zehn Jahre älter hätte sein können. Und auch ihr Haar, einst dunkelbraun und glänzend, war bald aschgrau und matt. All dies geschah, nachdem wir den endgültigen ärztlichen Befund vorliegen hatten, dass wir niemals Kinder würden bekommen können.
    Drei Stunden Zeit hatte ich also noch, bis Anna von der Arbeit nach Hause kommen würde. Sie war fast immer pünktlich - und zu unserem alltäglichen Ritual gehörte es, dann gemeinsam ein kleines, aber stets warmes Abendessen zuzubereiten. Nach längerer Überlegung, wie ich denn nun die restliche Zeit verbringen sollte, entschloss ich mich zu einem Spaziergang über die Felder und Wiesen, die direkt an unser Grundstück grenzten. Früher war ich dort fast täglich mit Paulchen gewesen. Seit seinem Tod allerdings mied ich die Gegend eher. Jeder Strauch, jeder Baumstumpf erinnerte mich an unseren Hund, den ich fast wie einen Menschen geliebt hatte. Die Spaziergänge ohne Paul lösten stets Wehmut und Trauer in mir aus. Ich sah ihn dann immer durchs Gras sausen, zwischen den Ähren nach Mäusen jagen - oder wie er einem Stöckchen hinterher schoss, das ich zuvor in weitem Bogen von mir geworfen hatte. Er war ein Belgischer Schäferhund und von so hoher Intelligenz, dass ich manchmal aus dem Staunen gar nicht herauskam. Unvergesslich ist mir sein Blick, kurz bevor er eingeschläfert wurde. Ich bin sicher, er wusste, was ihm bevorstand. Mir liefen die Tränen über das Gesicht, Anna hatte den Behandlungsraum unseres Tierarztes schon verlassen, und dann bellte er mich an, so wie ich ihn vorher noch nie hatte bellen hören. Ich streichelte ihn, er jaulte, zitterte am ganzen Leib, und seine Augen waren wie gebannt auf mich gerichtet. Ich konnte nichts sagen, legte meinen Kopf an seinen Kopf und küsste seine Stirn (was ich zuvor noch nie getan hatte), er schleckte mir die Tränen ab - und genau in diesem Moment gab ihm der Arzt die Spritze. Binnen Sekunden schlief Paul ein, ein paar Minuten später war er tot. Ich streichelte ihn bis zum letzten Atemzug, gab ihm noch einmal einen Kuss und rannte wortlos aus dem Zimmer.
    Paulchen hatte an Krebs gelitten, und eine Behandlung war nicht mehr möglich gewesen. Einen neuen Hund wollten wir uns vorerst nicht anschaffen.
     

    Ich verließ unser Grundstück durch ein kleines Gartentor hinter dem Haus. Es führte unmittelbar auf eine brachliegende Wiese mit einem schmalen Spazierweg, der von schönen Wildblumen gesäumt war. Ich ging langsam und ohne Gedanken. Es roch nach Spätsommer, die Luft stand still, dichte Wolkenberge über mir, und die Temperatur schätzte ich auf fünfundzwanzig bis dreißig Grad. Hohe Luftfeuchtigkeit. Wie lange ich so ging, weiß ich nicht mehr. Mit dem Betreten der Wiese zerfallen meine Erinnerungen ...
     

    Ich sehe eine alte Frau, die mir mit ihren beiden Rottweilern entgegenkommt. Wir grüßen uns. Ich höre das Dröhnen eines tief fliegenden Kampfjets. Und zucke erschrocken zusammen. Ich spüre, wie sehr ich schwitze und mich unbehaglich fühle. Hemd und Hose kleben an meiner Haut. Dennoch summe ich ein Lied. »Memories Are Made of This« von Dean Martin. Ich schlage nach den vielen Mücken, die mich umschwirren. Und Hunger habe ich. In der
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