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Champagnerwillich: Roman

Champagnerwillich: Roman

Titel: Champagnerwillich: Roman
Autoren: Michaela Möller
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Hinsicht noch um Längen übertrifft.
    Im Grunde ist eine fundierte Fakebildung das Beste, was man in einer Zeit voller explosionsartiger Informationsvermehrung tun kann. Zudem unterstreicht ein gut gewählter Idiolekt die eigene Persönlichkeit. Während andere Leute morgens die Zeitung lesen (viel zu unübersichtlich, zu dick für einen Tag und wundersamerweise immer mit einem Geruch behaftet, der mich stark an das Fell meines Nachbarhundes erinnert!), vertiefe ich mich beim Verzehr eines Croissants in das Lexikon der Fremdwörter . Ich meine, haben Sie schon mal versucht, die Unwissenheit über ein politisches Geschehen mit den Worten »Meine Lethargie sprach mir heute Morgen die Absorbierung der globalen Lektüre ab!« zu erklären, anstatt zu gestehen, dass man wieder einmal viel zu müde war, um vor der Arbeit noch die Zeitung zu lesen? Ich sage es immer wieder, man muss die Gebildeten mit ihren eigenen Waffen schlagen. Und wenn sie einen nicht verstehen, sind es dann nicht auch nur Fakegebildete?
    Ich hatte also die ganze Im-Schatten-meines-Bruders-Steherei ertragen, bis zu dem Tag, als ich wie immer in meinen himmelblauen Frotteepuschen und meinem pinkfarbenen Bademantel mit einem Schokofleck am Kragen – verräterische Spuren von einem kleinen Mitternachtssnack – die sechs knarrenden Stockwerke des renovierungsbedürftigen Wohnhauses zum Briefkasten sprintete, aus Angst, die Nachbarn könnten mich so sehen. Nervös fischte ich die Post aus dem Briefkasten, um daraufhin sofort den Rückwärtssprint anzutreten.
    Von so viel Morgensport geschwächt, hoffe ich inständig, nicht mit irgendwelchen Rechnungen belastet zu werden, aber wie gern hätte ich an diesem Tag eine Telefon-oder Kreditkartenabrechnung anstatt dieses vexierenden, champagnerfarbenen Umschlages in den Händen gehalten. Ich riss das Kuvert auf, zog die darin liegende Karte heraus und überlegte mir im nächsten Moment, welche Farbe mein Sarg haben sollte. Das Konfetti rieselte durch meine Finger, die Goldschrift blendete meine Augen, und der Inhalt verhalf meinem Psychiater zu einer neuen Badezimmerbekachelung.
    Ein Team für immer
    Wir heiraten!
    Tanguy Schöneberg und Indira Bodde
    All seinen Charme, seine Spontaneität, seinen Perfektionismus und sogar die Tatsache, dass seine Fingernägel zumeist besser manikürt sind als meine, hatte ich ertragen, aber nun war mein Bruder einen Schritt zu weit gegangen. Tanguy heiratete VOR MIR! Und ich konnte es ihm noch nicht einmal verübeln in Anbetracht der TATSACHE, dass ich seit über zwei Jahren, drei Monaten und vierundzwanzig Tagen Single war. Nicht, dass ich das dauernd nachrechnen würde.
    Das tut meine Mutter schon für mich.
    Ach, von dem chinesischen Hochzeitsdinner habe ich keinen Bissen gegessen! Gewisse Vorurteile dienen der Psyche als Selbstschutz und sichern das Überleben des Individuums, würde Herr Schnüttge jetzt wohl sagen!
    Gelernte Wörter: glazial = eiszeitlich;
    Idiolekt = individuelle Ausdrucksweise;
    vexierend = quälend.

2

FÜR REALITÄTSBETRACHTUNGEN EMPFIEHLT SICH EINE SONNENBRILLE
    H err Schnüttge.«
    »Frau Schöneberg.«
    »Meinen Sie, es ist gestattet, aufgrund von gravierenden psychologischen Langzeitfolgen seinen Bruder zur Adoption freizugeben?«
    »Ich habe den Verdacht, dass da ein schwerwiegender Komplex in Ihrem Unterbewusstsein verankert ist, der eindeutige Impulse sendet. Sie sollten vielleicht nicht immer nur auf die Stärken Ihres Bruders sehen. Stattdessen würde ich vorschlagen, Sie konzentrieren sich auf eine Sache, die Sie besser können als Tanguy.«
    »Kennen Sie die Nummer des Adoptionsamts?«
    »Selbst wenn ich sie wüsste, ich würde Sie Ihnen zu Ihrem eigenen Schutz nicht verraten.«
    »Verstehe.«
    Ich bin in Schwierigkeiten! Selbstverschuldet! Dummerweise! Das ist ja an sich noch nichts Besonderes, zumal ich so meine Erfahrungen mit selbstverschuldeten Schwierigkeiten habe.
    Aber dabei war ich noch niemals nackt! Dabei fällt mir ein, es gibt doch eine Sache, in der ich meinen Brudergeradezu gravitätisch schlage. Ich bin wirklich immer besser angezogen als er, und das, obwohl mein Kontostand weitaus überschaubarer ist als seiner und Tanguy zu den Männern gehört, die mehr Zeit im Badezimmer als auf dem Fußballplatz verbringen.
    Man könnte meinen, dass die Mode wohl eher unter Leidenschaft als unter Leistung fällt, aber bei meinen finanziellen Mitteln braucht man nicht nur einen Hang zur Ästhetik, sondern auch einen ausgereiften
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