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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne
Autoren: Orhan Pamuk
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den
letzten Bissen Brot in den Mund. Dann sah er auf seine Finger wie ein Kind, das
plötzlich nichts mehr zu essen in der Hand hat. »Diese Heirat wird wohl alles
verschlingen, was ich habe!«
    Die Kutsche war an der Hohen Pforte
vorbei fast bis an den Bosporus hinuntergefahren und nun in eine Seitengasse
eingebogen. Der Nebel hatte sich aufgelöst, und es herrschte wieder grelles
Sommerlicht. Cevdet schwitzte in seiner Kutsche. »Es wird wohl furchtbar heiß!
Was werde ich heute anfangen? Ich muss so schnell wie möglich das Geschäftliche
erledigen, und dann schaue ich vielleicht bei meinem Bruder vorbei.« Der
Gedanke an seinen Bruder, der in einer Pension in Beyoğlu krank
daniederlag, löste bei Cevdet Unbehagen aus. »Und mit Fuat wollte ich zu Mittag
essen. Er ist ja aus Saloniki zurück. Und am Nachmittag fahre ich nach Niaşntaşi, zum Konak von Şükrü Paşa!« Er war
ganz aufgeregt bei dem Gedanken, seine Verlobte vielleicht ein drittes Mal zu
Gesicht zu bekommen. »Dann sehe ich mir das Haus an, das der Makler gefunden
hat.« Cevdet hatte beschlossen, mit seiner Frau nach Nişantaşı
oder Şişli zu ziehen. »Dann fahre ich in den Laden zurück. Viel werde
ich mich dort nicht aufhalten können … Was ist eigentlich für ein Tag heute?
Montag!« An den Fingern zählte er ab: Vor drei Tagen war auf Sultan Abdülhamit
beim Freitagsgebet ein Attentat verübt worden, und genau zwei Wochen zuvor
hatte seine Verlobung stattgefunden. »Seit siebzehn Tagen bin ich verlobt!«
dachte er. Die Kutsche hielt vor dem Laden.
    Als Cevdet den Laden erblickte,
wurde sein durch das Geschüttle etwas eingeschläferter Geschäftsgeist sogleich
wieder wach. »Die Bestellung für die Farben muss noch geschrieben werden. An
wen werde ich wohl die defekten Lampen los? Wenn Eskinazi seine Schulden nicht
heute zurückzahlt, dann sage ich ihm …« Er unterbrach sich und sprach beim
Übertreten der Schwelle die Eröffnungsformel des Korans. »Ich werde von
Eskinazi zweihundert Lira mehr verlangen, und wenn er darauf eingeht, stunde
ich ihm das Geld einen Monat länger.« Streng grüßte er einen der beiden
Lehrlinge. Den anderen, den er gerne mochte, weil er fleißig und genügsam war,
lächelte er an. Dann wandte er sich wieder dem ersten, allzu verträumten
Lehrling zu.
    »Bestell mir meinen Kaffee! Und eine
Pastete dazu!«
    Dann ging er wie jeden Morgen
eiligen, nervösen Schrittes auf seinen Schreibtisch zu und nahm daran Platz. Er
warf rasche Blicke um sich, wie auf der Suche nach irgendeinem Vergehen, das zu
ahnden wäre. Dann sah er, dass wie immer seine Zeitung auf dem Schreibtisch
lag, der Moniteur d’Orient, den alle Kaufleute abonniert hatten, weil er
gut über das Geschäftsleben informierte, und der überdies von Nutzen für das
Französische war. Er kam etwas zur Ruhe. Gewohnheitsmäßig blickte er zuerst auf
das Datum: 24 Juillet 1905; nach dem alten Kalender war das der 11. Juli 1321.
Dann ging er die Schlagzeilen durch. Er erfuhr das Neueste über das Attentat
auf den Sultan. Dann kam etwas über den Russisch-Japanischen Krieg, aber das
interessierte ihn nicht weiter. So blätterte er um zu den Börsennachrichten und
fand dort auch zwei Meldungen vor, die für ihn von Bedeutung waren. Im
Anzeigenteil erfuhr er, dass der Eisenhändler Dimitri sein Lager auflöste; er
musste also in Schwierigkeiten stecken. Panayot, der wie Cevdet mit
elektrischen Geräten und Eisenwaren handelte, machte Reklame für seine neueste
Ware. Kurz erwog Cevdet, selbst so eine Anzeige aufzugeben, verwarf den
Gedanken aber sogleich wieder. Als er auf die Annonce einer Theatertruppe
stieß, die ihr neues Programm im Odeon ankündigte, musste er wieder an seinen
schwerkranken Bruder denken, dessen Freundin eine armenische Schauspielerin
war. Um seinen Bruder zu vergessen, aß er die Pastete, die inzwischen gebracht
worden war, trank seinen Kaffee und nahm sich schwerfällig lesend einen neuen
Artikel vor. Wie jedesmal bei der Lektüre der Zeitung seufzte er über die
vielen französischen Wörter, die er nicht kannte. Und wie jedesmal dachte er an
all die Mühe, die er aufs Französischlernen verwendet hatte, und an das Geld,
das ihn sein Privatlehrer gekostet hatte. Zusammen mit ihm hatte er im Lehrbuch
das in einfachen Sätzen geschilderte Alltagsleben einer französischen Familie
gelesen und sich dabei immer selbst nach einer solchen schönen Familie und
einem solchen Haus gesehnt. Daran erinnerte er sich gern, und mit seinem von
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