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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne
Autoren: Orhan Pamuk
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Resigniert schaute sich Cevdet
um, las die Ladenschilder und beobachtete die Leute.
    Aus dem Friseurladen des berühmten
Petro kam gerade ein Mann mit Hut heraus. Zwei Christinnen standen vor dem
Schaufenster von Jean Botter, über den es hieß, er sei der Schneider des
Kronprinzen Reşat. Bei
Decugis, der mit Silber und Kristallwaren handelte, glänzte es nur so aus dem
Laden heraus. Nicht weit davon war die Konditorei Lebon. Als Cevdet das Schild
des Gemischtwarenhändlers Dimitrokopulo und damit eines weiteren Nichtmuslimen
sah, überkam ihn wieder das Einsamkeitsgefühl, das ihn schon am Morgen geplagt
hatte. Um davon loszukommen, versuchte er sich wieder in Erinnerungen an die
Kindheit zu flüchten, an die Gärten von Akhisar. »Ich gehöre weder zu den einen
noch zu den anderen!« Der Wagen fuhr wieder los. »Wenn es wenigstens meinem
Bruder gutginge und er mich nicht so verachten würde … Was ist heute nur los
mit mir?« Seinen Traum empfand er nun als ungutes Erlebnis. Unter all den
Schulkameraden hatte ihn am bösesten sein Bruder angeschaut. »Warum sieht er
nur so auf mich herab? Weil er sich für einen Jungtürken hält!«
    Mit den Jungtürken war Nusret bei
seinem ersten Parisaufenthalt in Kontakt gekommen. Er hatte zunächst die
Medizinhochschule mit dem Rang eines Hauptmanns beendet und dann zwei Jahre
lang im Krankenhaus Haydarpaşa als Assistenzarzt gearbeitet. Danach war er
in diversen Krankenhäusern in Anatolien und Palästina im Einsatz gewesen. Dass
er von Stelle zu Stelle gereicht wurde, war vermutlich seinem unverträglichen
Charakter und seiner Aufmüpfigkeit geschuldet. In dem Jahr, in dem Cevdet in
Aksaray seine Eisenwarenhandlung eröffnete, erwirkte Nusret seine Versetzung
nach Istanbul und heiratete ein Mädchen, das die Verwandten in Haseki für ihn
ausgesucht hatten. Zwei Jahre später verließ er die schwangere Frau und ging
nach Paris. In der Familie und unter den Leuten, mit denen Cevdet nun nichts
mehr zu tun hatte, wurde diese Flucht nach Paris auf die Lektüre der seltsamen
Zeitschriften zurückgeführt, die Nusret ständig zu Hause las. Stundenlang habe
er über der Zeitung Mizan gebrütet, in der der Historiker Murat sich
schwelgend über die Französische Revolution ausließ. Nusret selbst führte als
Grund für seine Reise wie selbstverständlich eine Fachausbildung zum Chirurgen
an. Cevdet dagegen hatte mitbekommen, dass Nusret nicht einmal mit ansehen
konnte, wie ein Huhn geschlachtet wurde, und vermutete daher, der Bruder habe
es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Die alte innere Unruhe hatte ihn
wohl dazu veranlasst, nach vier Jahren Paris wieder heimzukehren, sich scheiden
zu lassen, mit dem Trinken anzufangen, auf den Sultan zu schimpfen, wieder nach
Paris zu gehen, sich dort unter den Jungtürken so weit hervorzutun, wie das
einem Alkoholiker eben möglich war, und danach, hungrig und arbeitslos, wieder
nach Istanbul zurückzukehren. Doch obwohl Cevdet so dachte, war er sich
durchaus bewusst, dass sein Bruder ihm in mancher Hinsicht überlegen war und
den Leuten herzlicher und vertrauenswürdiger erschien. Das erklärte sich Cevdet
damit, dass sein Bruder eben keinerlei Verantwortung auf sich nahm. Er selbst
dagegen war ein ordentlicher Mensch, der nie davor zurückscheute, Verantwortung
zu übernehmen, und sei es auch nur für sich selbst und sein eigenes Leben. Wenn
er sich auch dieser Gedanken ein wenig schämte, so sagte er sich doch: »Ich
trage Verantwortung, und ich habe ein Ziel im Leben! Er dagegen ist unbelehrbar
und hat nichts anderes als Radau im Kopf!«

3
  DIE JUNGTÜRKEN
    Das Coupé bog in die Gasse ein, in dem sich das
Hotel Savoie befand, und hielt ein paar Minuten später vor einem
zweistöckigen alten Steinhaus. Cevdet wurde die Tür von der Pensionswirtin geöffnet,
die ihm ehrerbietig Platz machte und dabei einen verstohlenen Blick auf die
Kutsche draußen warf. Dann ging sie Cevdet auf der Treppe hinterher und nutzte
die Gelegenheit, um über seinen Bruder herzuziehen: Er sei zu laut, belästige
die anderen Pensionsgäste, und trotz seiner Krankheit führe er sich
sittenwidrig auf. Cevdet, der immer Angst hatte, die Frau werde den Bruder aus
der Pension hinauswerfen, nickte nur zu allem. »So schlimm kann es also nicht
stehen um ihn!« dachte er. Rasch war er oben an der Tür und klopfte an.
    Wie erwartet, machte die Armenierin
auf. Wie jedesmal, wenn Cevdet sie sah, errötete er. Um das zu überspielen, tat
er so, als fiele ihm gerade
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