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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne
Autoren: Orhan Pamuk
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Erdgeschoss eines Hauses als Geschäftsraum
verwendet, während man auf den Etagen produzierte. So wie einst Nigân zum
Schaufensterbummel von Nişantaşı nach Beyoğlu gefahren war,
kamen nun Leute aus anderen Vierteln zum Einkaufen oder Essen nach
Nişantaşı. Als ich Ende der neunziger Jahre wegen einer
Wohnbescheinigung zum Bürgermeister musste, klagte dieser, wie wenige Familien
überhaupt noch im Viertel wohnten. Die Fassaden an den Hauptstraßen waren
nachts stockdunkel. Anfang 2000 wurde direkt gegenüber dem Pamuk Apartmanı das Gymnasium
abgerissen, in dem ich die Mittelstufe besucht hatte, und da wusste ich, dass
Nişantaşı für mich nicht mehr das gleiche war. Ein paar Jahre
lang schrieb ich an meinen Romanen nicht mehr mit Blick auf meine alte Schule,
sondern auf einen Parkplatz. Danach wurde an dessen Stelle ein hässliches
Einkaufszentrum errichtet, an dessen Fassade auf einem riesigen Bildschirm
Models zappelten. Es machte keine Freude mehr, in Nişantaşı zu
wohnen.
    Ohnehin musste ich damals wegen
nationalistischer Hasskampagnen gegen mich der Türkei eine Weile fernbleiben,
und als ich zurückkam, sah ich, dass man direkt vor dem Pamuk Apartmanı zu
meinem Schutz eine Wachkabine der Polizei aufgestellt hatte. Ich kam nach Hause
und war doch nicht mehr richtig zu Hause an dem Ort, an dem ich mein ganzes
Leben verbracht hatte. Das Pamuk Apartmanı, das mir beim Verfassen von Cevdet
und seine Söhne als Vorbild gedient hatte, war allerdings längst nicht mehr
das von fröhlichem Lärmen erfüllte Haus von damals. Die Verwandten von mir, die
noch darin wohnten, waren allesamt alte Leute, die hinter dicken Vorhängen
still für sich hinlebten und das neue Treiben vor ihrer Haustür kaum mehr
wahrnahmen.
    Als ich 2001 an einem nebligen
Dezembertag in Lübeck vor dem Geburtshaus von Thomas Mann stand, das im Krieg
zerstört und danach wiederaufgebaut worden war, überfiel mich ein ähnliches
Gefühl, denn käme Thomas Mann heute wieder dorthin, so würde der Gedanke, dies
sei einmal sein Heim gewesen, ihn gewiss schmerzlich berühren. Dies sei
erwähnt, da mir seinerzeit als Vorbild für Cevdet und seine Söhne sowohl Anna Karenina als auch die Buddenbrooks galten. Anders als die Buddenbrooks sollte mein Roman eher wie Anna Karenina eine ganze Gesellschaft
widerspiegeln, so dass ich einen Teil der Handlung auch in Ankara spielen ließ.
Ich weiß noch gut, wie ich mich kindlich darüber freute, dass bei mir Istanbul,
Ankara und das abgelegene Kemah vorkamen, so wie bei Anna Karenina Sankt
Petersburg, Moskau und Szenen auf dem Dorf. Um genauer beschreiben zu können,
wie wohl die Eisenbauarbeiten an der Strecke Sivas-Erzincan verlaufen waren, an
der mein Großvater damals als Unternehmer mitgewirkt hatte, und wie Ömer auf
den Baustellen und in Kemah seine Tage verbracht hatte, habe ich mich nicht nur
auf Familienerinnerungen verlassen, sondern mich an Ort und Stelle begeben. Es
machte mir riesigen Spaß, in Kemah aus dem Zug zu steigen und durch den Ort zu
spazieren, dessen seltsame Schönheit ich in meinem Roman zu schildern gedachte.
Als ich zum Bahnhof zurückkehrte, um nach Erzincan weiterzufahren, erklärte mir
der Bahnhofsvorstand halb im Spaß, halb im Ernst, der Zug könne in zwei Stunden
eintreffen, aber auch erst in zwei Tagen. Nun, irgendwann kam er angeruckelt,
und ich fuhr nach Erzincan und verbrachte dort zwei Tage. Fünfundzwanzig Jahre
nach dieser Zugreise fuhr ich zu Recherchen für meinen Roman Schnee zum
erstenmal nach Kars.
    Wegen der Arbeit meines Vaters
verbrachten wir von Mai 1960 bis zum Sommer 1962 zwei Jahre in Ankara, und so
habe ich von der bürokratisch-autoritären Atmosphäre der Stadt genug
mitbekommen, um sie in meinem Roman entsprechend schildern zu können. In Ankara
erlebte ich 1960 die ersten Demonstrationen und den ersten Putsch. Knapp einen
Monat nach unserem Umzug sah ich eines Morgens beim Aufstehen, dass meine
Eltern und ihre Freunde seit dem Vorabend noch immer am Bridgetisch saßen und
spielten. »Es hat einen Militärputsch gegeben«,
sagte meine Mutter. »Man darf nicht raus auf die Straße, also sind sie
hiergeblieben. Willst du Eier zum Frühstück?« Die Ausgangssperre wurde gleich
wieder aufgehoben, doch der Ministerpräsident und zwei seiner Minister wurden
ein Jahr später von den Militärs gnadenlos aufgehängt. Studenten aus dem
Wohnheim gegenüber, die den Putsch begrüßten, bastelten damals gleich am
Nachmittag in aller Eile ein Transparent und
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