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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne
Autoren: Orhan Pamuk
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So
wie man einen Gehrock mietet, hast du also jetzt eine Kutsche gemietet, was?«
Schmunzelnd sah er zu Mari.
    Cevdet fühlte sich nichtswürdig.
    Mit einem verächtlichen Lächeln auf den
Lippen sagte Nusret: »Bist ja so elegant heute!« Ohne Cevdets Antwort
abzuwarten, sagte er zu Mari: »Ich habe dir doch erzählt, dass er sich mit der
Tochter eines Paşas
verlobt hat, oder?« Und zu Cevdet: »Wie ist sie denn so? Ist sie ein guter
Mensch?«
    »Ja!«
    »Woher willst du das wissen? Wie oft
habt ihr euch denn gesehen?«
    Cevdet fühlte von Stirn und Nacken
den Schweiß herunterlaufen und stand auf. Er kramte nach einem Taschentuch, bis
ihm wieder einfiel, dass er keines einstecken hatte. Er setzte sich wieder.
»Zweimal«, murmelte er.
    »Zweimal also? Ihr habt euch zweimal
gesehen, und da weißt du schon, dass sie ein guter Mensch ist! Habt ihr denn
miteinander gesprochen dabei?«
    Cevdet rutschte ungemütlich auf
seinem Stuhl herum.
    »Ob ihr miteinander gesprochen habt,
frage ich dich! Woher weißt du, dass sie ein guter Mensch ist? Worüber habt ihr
geredet?«
    »Na ja, unterhalten haben wir uns.«
    »Jetzt genier dich doch nicht so!«
platzte es aus Nusret heraus. »Es ist doch nicht deine Schuld, wenn du nicht
mit ihr geredet hast. Das kommt einfach von diesen verdammten Traditionen, von
dem dreckigen, schlechten Leben hier! Weißt du, was ich damit meine? Weißt du,
was das hier für eine Welt ist? Nichts weißt du und nickst einfach mit dem Kopf! Dir kann das
gleiche passieren! Aber nein, du bist ja nicht so einer! Du hast bald eine
Familie … Aber so eine Frau wie die da wird dich nie lieben!«
    Gleichzeitig sahen beide zu Mari
hin. Cevdet war nun klar, dass diese Scham und dieser Schweiß kein Ende nehmen
würden, solange er vor seinem Bruder saß.
    »Jetzt werd doch nicht ständig blass
oder rot!« sagte Nusret. Er deutete auf Mari: »Sie gefällt dir, was? Du bist ja
ganz hingerissen von ihr!«
    »Nusret! Bitte!« rief Mari, aber
besonders verlegen schien sie nicht zu sein. Sie strahlte einen gelassenen
Stolz aus.
    »Du gefällst ihm wirklich. Er ist
ganz fasziniert!« sagte Nusret lächelnd zu Mari. »Weil du ihm so europäisch
vorkommst. Mein Bruder bewundert nämlich alles, was aus Europa kommt. Mit einer
Ausnahme …« Er hielt inne, als suchte er das richtige Wort. »Mit Ausnahme der
Revolution!« Er drehte sich zu Cevdet um. »Weißt du, was Revolution bedeutet?
So eine richtige Revolution mit Blutvergießen und Guillotine? Ach, was sollst
du davon schon wissen! Das einzige, was du kennst und liebst, ist doch nur …«
Er sprach es nicht aus, sei es, weil er keine Luft mehr bekam, oder weil er
nicht so deutlich werden wollte. Dann aber rieb er in bezeichnender Weise
Zeigefinger und Daumen aneinander.
    Cevdet hielt es nicht mehr aus. Es
war schlimmer als in seinem Traum. Er stand auf, tat zwei taumelnde Schritte
auf seinen Bruder zu und wimmerte: »Nusret, ich liebe dich doch! Was ist denn
los mit uns beiden?«
    Zum erstenmal seit Jahren widerfuhr
ihnen so etwas. Cevdet war alles unendlich peinlich. Lächelnd blickte er Mari
an. »Warum habe ich jetzt das gemacht?« dachte er dann. »Mein Gott, wie ich
schwitze!« Es war wirklich schlimmer als im Traum.
    Da mühte sich Nusret, seinen
Oberkörper aufzurichten, fiel aber sogleich zurück auf das Kissen. Als er es
noch einmal versuchte, bekam er einen Hustenanfall. Seiner Kehle und seinen
Lungen entfuhr ein entsetzliches Röcheln. Ohne etwas tun zu können, sah Cevdet
voller Schreck und Scham dabei zu, wie sein Bruder sich wand. Mari setzte sich
neben Nusret und hielt ihn an den Schultern. Um nur ir gend etwas zu tun,
beschloss Cevdet, das Fenster aufzumachen. Da kam sein Bruder gerade wieder
etwas zur Ruhe.
    »Nein, mach nicht auf!« rief er
Cevdet zu. »Ich will nicht, dass der ganze Dreck hier hereinkommt! Die
niederträchtige, elende Luft da draußen und die furchtbare, despotische
Dunkelheit sollen mir nicht ins Zimmer herein!« Er redete nun wie in Trance.
»Niemand macht das Fenster auf! Solange nicht meine Heimat vor dem Dunkel
errettet wird wie Frankreich und Sultan Abdülhamit stürzt und alles hell und
sauber und ehrlich ist, macht mir niemand dieses Fenster auf!« Wieder bekam er
einen Hustenanfall und schlotterte am ganzen Leib.
    Cevdet fiel in seiner Verlegenheit nichts
anderes ein, als seinem Bruder das Kopfkissen aufzuschütteln und den zu Boden
gerutschten Bettzipfel aufzuheben. Da raunte ihm Mari ganz aufgeregt zu: »Ein
Arzt! Holen
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