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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne
Autoren: Orhan Pamuk
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der
ersten Zigarette des Tages leicht umnebelten Geist stellte er sich wieder vor,
dass auch er bald ein Leben führen würde wie jene französische Familie. Als er
den Artikel zur Hälfte durchhatte, kam er zu dem Schluss, zuviel Zeit damit zu
verlieren. Daher legte er den Moniteur beiseite und stand auf. Die
Pastete war verzehrt, der Kaffee getrunken, die erste Zigarette geraucht, und
auch aufs Nachrichtenlesen war die nötige Zeit verwandt worden. Nun fühlte er
in sich genügend Kraft, Anspannung und inneres Gleichgewicht, um sich der
Arbeit des Tages zu widmen. Sein Rechnen und Sorgen waberte nun nicht mehr nur
so dahin wie in den ersten Minuten nach dem Erwachen, und es loderte auch nicht
verzehrend wie soeben noch, sondern nun brannte es, wie das im Kopf eines
Kaufmanns nun mal zu sein hatte: wie ein starkes, doch unter Kontrolle
gebrachtes Feuer. »So, als erstes gehe ich mit Sadık noch einmal die
Bücher durch!«
    Sadık war Cevdets Buchhalter, zehn Jahre jünger als er,
doch wirkte er, als seien sie gleichaltrig. Cevdet ging zu ihm in das
Zwischenstockwerk und unterhielt sich eine Weile mit ihm. Als er feststellte,
dass sich zwischen den bis Donnerstag eingehenden Geldern und den fällig
werdenden Krediten eine kleine Lücke auftat, beschloss er, von Eskinazi seine
Schulden einzufordern.
    Dann ging der zu den Verkäufern
hinunter und sprach mit dem Albaner mittleren Alters, der dort die Leitung
innehatte. Cevdet zeigte auf einen mit Farbtöpfen, Lampen und allerlei Zeug vollgestellten
Ladentisch und erklärte, die Kunden hätten es gerne, wenn alles einen
aufgeräumten Eindruck mache. Der Albaner wusste gar nicht, wie ihm geschah, und
versuchte sein Ordnungsprinzip zu verteidigen. Daraufhin stellte sich Cevdet
selbst hinter den Ladentisch, räumte strengen Blickes dieses und jenes auf und
bediente sogar um des Vorbilds willen einen Kunden. Nachdem er sich sicher war,
die Angestellten mit diesem unprätentiösen Gebaren hinreichend beeindruckt und
beschämt zu haben, kehrte er an seinen Schreibtisch zurück, von dem er alles
überblicken konnte.
    Er machte sich daran, bezüglich
einer Farbbestellung einen Brief zu schreiben, und war auch gleich, rapide und
routiniert, bei der Hälfte angekommen, als ihm wieder einmal einfiel, wie angebracht
es doch wäre, für dergleichen einen Schreiber anzustellen. Doch hätte das schon
wieder eine neue Ausgabe bedeutet. »Wo mich doch diese Heirat schon so viel
kostet!« Da kam der Wächter des etwa zweihundert Schritt entfernten
Firmenlagers und meldete, die riesigen Kisten mit den neuen Lampen seien
einfach nicht ins Lager hineinzubekommen, und er sorge sich, dass etwas
kaputtgehen könne. Verärgert stand Cevdet auf. Er ging auf und ab und ordnete
schließlich an, die Kisten alle öffnen und leeren zu lassen. Das war zwar
höchst unpraktisch, da die Lampen anschließend nach Anatolien gesandt werden
sollten, aber anders war es nun einmal nicht zu bewerkstelligen. Als Cevdet den
Wächter wieder los war, schrieb er seinen Brief zu Ende und lamentierte dabei
innerlich, wie sehr es ihm doch an Zeit und an Geld mangele. Wem sollte er nur
die defekten Lampen verkaufen? Am besten war es wohl, sich darüber mit Fuat zu
beraten, seinem Kaufmannskollegen, auf dessen Klugheit und Freundschaft er viel
gab. Hastig sah er auf die Uhr: bald halb zwei. Er verließ den Laden und machte
sich auf den Weg zu Eskinazi.

2
  MUSLIM UND KAUFMANN
    Kaum war er aus dem Laden, stellte er erfreut fest,
dass die ersten Hürden des Tages schon genommen waren, noch dazu ohne größere Kraftanstrengung,
und dass alles seinen gewohnten Gang ging. Unbemerkt von seinem Kutscher, der
unter einem Baum mit einem Kollegen ein Schwätzchen hielt, ging er in Richtung
Sultanhamam. Der Laden Eskinazis war kaum sechshundert Schritt entfernt. Unterwegs
überlegte er, wie er Eskinazi die Sache darlegen und wieviel mehr er für eine
Stundung der Schulden verlangen sollte. Dabei grüßte er immer wieder zu anderen
Kaufleuten hinüber, und diese gaben ihm mit ihren Blicken und ihrem Lächeln zu
verstehen, wie interessiert und verwundert sie zur Kenntnis nahmen, dass sich
da ein Muslim unter sie gemischt hatte. Die Blicke besagten: »Schau, schau, da
haben wir jetzt einen Kaufmann mit Fes auf dem Kopf! Deinen Mut und deine
Entschlossenheit können wir nur bewundern!« Und so wie Cevdet grüßend
zurückblickte, hieß das: »Ich weiß schon, was ihr über mich denkt, und ich weiß
auch, von welchem Schlag ich bin!«
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