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Carlotta steigt ein

Carlotta steigt ein

Titel: Carlotta steigt ein
Autoren: Linda Barnes
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quietschte. Ein kleines
Mädchen in einem geblümten Trägerkleid kam herein und zog seine
schwarzgekleidete Großmutter an der Hand hinter sich her. Das Mädchen blieb mit
offenem Mund stehen, gab ein Geräusch wie das Türquietschen von sich und war
mit einem Satz wieder draußen. Mooney stand mit dem Rücken zur Tür, deshalb
konnte er den Ausdruck höchster Empörung, in dem das knochige Gesicht der Frau
erstarrt war, nicht sehen. Sie holte mit ihrem zusammengerollten Schirm aus.
Sie sah genau wie meine Lehrerin aus der dritten Klasse aus, und ich fühlte
mich plötzlich um Jahre zurückversetzt — ich war zehn, hatte mich auf dem
Mädchenklo versteckt und war dort bei meinen Mathe-Hausaufgaben ertappt worden.
    «Ich weiß wirklich nicht, was
Sie hier zu suchen haben, junger Mann!» kreischte sie.
    Es muß schon eine ganze Weile
her gewesen sein, daß jemand Mooney in einem solchen Ton «junger Mann» nannte.
Ich spürte, wie er zusammenzuckte. Er schaute um sich. Sein Gesicht wurde
flammendrot, als er sich ein klares Bild von der Umgebung gemacht hatte.
    Er drehte sich zu seiner
Anklägerin um. «Alles in Ordnung, Lady», sagte er hastig, «ich bin ein
Polizist.»
    Ich lachte so, daß ich mich auf
den Fußboden setzen mußte.
     
     
     

35
     
    Ich schaffte es, noch vor
Mitternacht nach Hause zu kommen, setzte mich eine Zeitlang mit gekreuzten
Beinen auf mein ungemachtes Bett und kaute an den Fingernägeln. Dann sprang ich
resolut auf und ging durchs Zimmer zum Telefon. Mir kam der Weg sehr lang vor.
Ich brauchte Sam wahrscheinlich nicht aufzuwecken. Er ist eine Nachteule; war
er jedenfalls früher immer. Das Telefon klingelte und klingelte; zehn-, zwölf-,
vierzehnmal. Nicht einmal der Anrufbeantworter meldete sich. Ich dachte, ich
hätte vielleicht die falsche Nummer gewählt und versuchte es weiter, wieder und
wieder, bis zwei Uhr nachts — spielte Gitarre, wählte, fragte mich, wo er stecken
könnte, wählte. Bald konnte ich seine Nummer auswendig.
    Am nächsten Morgen, als ich ein
Knacken und dann Sams Stimme hörte, fing ich gleich an zu sprechen und merkte
erst später, daß ich zum Anrufbeantworter sprach. Er mußte nach Hause gekommen
sein, die Maschine angestellt haben und wieder gegangen sein, oder er benutzte
das verdammte Ding zum Vorsortieren. Das Telefon piepte mir ins Ohr. Ich geriet
in Panik und hängte ein, ohne die zugestandenen 30 Sekunden Sprechzeit zu
nutzen. Was zum Teufel konnte ich denn in 30 Sekunden sagen? Ich wählte erneut,
gab meinen Namen an und bat ihn, mich zurückzurufen. Ich klang kühl und
unpersönlich, selbst für meine eigenen Ohren. Er rief nicht zurück.
    Ich las im Globe über
die Beerdigung. Keine detaillierte Todesanzeige, nur eine kleine alphabetisch
eingeordnete Notiz, in der die Leichenhalle aufgeführt war — ein Ort im North
End, von dem ich noch nie gehört hatte — und die Besuchsstunden: Mittwochs von
2 Uhr bis 4 Uhr. Bei anderen Todesanzeigen waren Ehemänner, Ehefrauen und
Kinder als Hauptleidtragende namentlich genannt. Diese fing so an: «Der Enkel
von Anthony Gianelli.» Dann war der Name der Mutter und danach der des Vaters
angegeben. Kein Trauergottesdienst. Keine Zeile, daß statt Blumen Spenden
erbeten seien.
    Ich kaufte in einem Laden auf
der Huron Avenue Blumen, lilablaue Iris, die in der zu dieser Jahreszeit
ungewöhnlichen Hitze welkten. Mein grauer Wollrock schmiegte sich an meine Schenkel.
Es war zu heiß für Wolle, aber ich besaß keine sommerliche Trauerkleidung. Als ich
endlich an der Park-Street-Station ankam, war ich naßgeschwitzt und bedauerte,
die stickige Red-Line-U-Bahn genommen zu haben statt meinen Toyota. Ich hatte
mir einmal geschworen, nie mit dem Auto ins North End zu fahren. Die Straßen
sind dort so eng, und Parken ist völlig unmöglich.
    North End ist kein Ort für eine
irische Beerdigung. Es ist das italienische Viertel, dicht bevölkert und durch
eine Hauptverkehrsader vom übrigen Boston abgeschnitten. Die Straßen sind von
holprigen Gehwegen gesäumt, die direkt an die schmalen dreistöckigen
Reihenhäuser stoßen. Keine Rasenflächen, keine Bäume. Aber die Gebäude sind
erstaunlich gut in Schuß, sauber und frischgestrichen. Geranientöpfe zieren die
Blumenkästen an den Fenstern und die eisernen Feuertreppen. Alte Männer sitzen
auf den kleinen Eingangsveranden und vertreiben sich mit Zeitunglesen die Zeit.
Espresso-Bars und Bäckereien verströmen ihren Duft. In den Bäckereischaufenstern
liegen Bleche mit
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