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Selection

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Titel: Selection
Autoren: Kiera Cass
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1
    Meine Mutter war völlig ekstatisch, als wir den Brief bekamen. Für sie hatten sich damit all unsere Probleme auf einen Schlag gelöst. Es gab nur einen Haken an ihrem tollen Plan: mich. Ich halte mich nicht für eine besonders bockige Tochter, aber hier war für mich Schluss.
    Ich wollte nicht zur Königsfamilie gehören. Und ich wollte keine Eins werden. Ich wollte es nicht mal versuchen.
    Ich verkroch mich in meinem Zimmer, dem einzigen stillen Ort in unserem überfüllten Haus, und überlegte, wie ich Mom umstimmen konnte. Bislang hatte ich nur meine aufrichtigen Ansichten anzubieten … und die würde sie sich vermutlich nicht mal anhören.
    Aber jetzt konnte ich Mom nicht länger aus dem Weg gehen. Es war bald Zeit zum Abendessen, und als ältestes Kind im Haus hatte ich das Kochen zu übernehmen. Ich zwang mich zum Aufstehen und begab mich in die Schlangengrube.
    Mom warf mir einen erbosten Blick zu, blieb aber stumm.
    Schweigend hantierten wir in Küche und Esszimmer herum, bereiteten Hühnchen, Pasta und Apfelschnitze zu und deckten den Tisch für fünf. Wenn ich mal aufblickte, schaute Mom mich so durchdringend an, als wolle sie mir auf diese Art ihren Willen aufzwingen. Das versuchte sie ständig. Wenn ich nicht auftreten wollte, weil die Auftraggeber grob und herablassend waren. Oder wenn ich den Hausputz übernehmen sollte, weil wir uns nicht mal mehr eine Sechs als Hilfe leisten konnten.
    Manchmal bekam sie ihren Willen. Manchmal auch nicht. Aber in dieser Sache wollte ich mich nicht umstimmen lassen.
    Mom kann es nicht ausstehen, wenn ich widerspenstig bin. Dabei sollte sie das eigentlich nicht wundern, denn das habe ich von ihr. Und hier ging es auch nicht um mich. Mom war schon seit einiger Zeit sehr angespannt. Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen, und die Kälteperiode nahte. Und damit waren auch die Sorgen nicht fern.
    Mom knallte den Krug mit Tee auf den Tisch. Beim Gedanken an Tee mit Zitrone lief mir das Wasser im Mund zusammen. Aber ich musste warten; es wäre Verschwendung gewesen, mein Glas Tee jetzt schon zu trinken und dann zum Essen nur Wasser zu haben.
    »Glaubst du, es würde dich umbringen, das Formular auszufüllen?«, fragte sie schließlich. »Das Casting wäre so eine tolle Chance, für uns alle.«
    Ich seufzte laut. Das Formular auszufüllen kam in meiner Vorstellung wirklich fast dem Tod gleich.
    Es war kein Geheimnis, dass die Rebellen – jene Untergrundkolonien, die Illeá, unser großes und vergleichsweise junges Land, hassten – häufig brutale Angriffe auf den Palast starteten. Wir hatten gesehen, was sie in Carolina angerichtet hatten. Das Haus eines Stadtrats war in Brand gesteckt worden, und man hatte die Autos einiger Zweier zerstört. Einmal hatten die Rebellen sogar Häftlinge aus dem Gefängnis befreit – allerdings nur ein junges schwangeres Mädchen und eine Sieben, einen Vater von neun Kindern. Ehrlich gesagt, fand ich das eigentlich sogar richtig.
    Doch von der Bedrohung abgesehen, schmerzte mir auch das Herz bei der Vorstellung, an dem Casting teilzunehmen. Und ich musste unwillkürlich lächeln beim Gedanken daran, wie viele gute Gründe es für mein Hierbleiben gab.
    »Die letzten Jahre waren schlimm für deinen Vater«, sagte Mom aufgebracht. »Wenn du nur einen Funken Mitgefühl hast, tust du es für ihn.«
    Dad. Ja. Dad würde ich wirklich helfen wollen. Und May und Gerad. Und vermutlich sogar meiner Mutter. Wenn sie das Ganze so darstellte, gab es auch keinen Anlass mehr zum Lächeln. Wir hatten es schon so lange schwer. Ich fragte mich, ob Dad das Casting auch als Chance betrachtete.
    Unsere Lage war nicht so schlimm, dass wir ums nackte Überleben kämpfen mussten. Wir waren nicht bettelarm. Aber so weit entfernt davon wohl auch nicht.
    Als Künstler waren wir nur drei Kasten höher als die Allerniedrigsten und galten wenig mehr als Dreck. Geld war knapp und unser Einkommen saisonabhängig.
    In einem alten Geschichtsbuch hatte ich mal gelesen, dass die großen Feste früher alle im Winter stattfanden. Auf etwas namens Halloween folgte Thanksgiving, dann kamen Weihnachten und Silvester in kurzer Folge.
    Weihnachten gab es noch. Die Geburt einer Gottheit ließ man unangetastet. Aber nachdem Illeá den großen Friedensvertrag mit China geschlossen hatte, begann das neue Jahr entweder im Januar oder im Februar, je nach Mondphase. Und alle anderen Dank- oder Unabhängigkeitsfeiern aus unserem Teil der Welt wurden dem Dankbarkeitsfest untergeordnet.
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