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HHhH

HHhH

Titel: HHhH
Autoren: Binet Laurent
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1
    Sein Name war Gabčik. Es hat ihn wirklich gegeben. Ob er hinter den geschlossenen Fensterläden seiner in Dunkelheit getauchten Wohnung das charakteristische Quietschen der Prager Tram vernahm? Ob er ihm sogar lauschte, während er alleine auf seinem kleinen Eisenbett lag? Ich möchte es gerne glauben. Da ich Prag gut kenne, kann ich mir vorstellen, welche Straßenbahnlinie dort entlangfuhr (vielleicht hat sich die Nummer auch geändert), ihren Streckenverlauf und den Ort, an dem Gabčik hinter den geschlossenen Fensterläden liegt und abwartet, nachdenkt und lauscht. Wir sind in Prag, an der Ecke Vyšehradská und Trojička. Die Tram Nummer 18 (oder 22) hat vor dem Botanischen Garten angehalten. Den Großteil der Zeit befinden wir uns im Jahr 1942. Kundera lässt in seinem Buch vom Lachen und Vergessen durchklingen, dass er sich ein wenig dafür schämt, seinen Figuren Namen geben zu müssen, und auch wenn in seinen Romanen, in denen sich Tomas, Tamina, Teresa und andere tummeln, davon kaum etwas zu spüren ist, schwingt zwischen den Zeilen folgende Frage mit: Gibt es etwas Gewöhnlicheres, als in der albernen Bemühung um Realismus oder im besten Fall aus schlichter Bequemlichkeit einer ausgedachten Figur einen ausgedachten Namen zu verleihen? Kundera hätte meiner Meinung nach noch einen Schritt weiter gehen sollen: Gibt es denn etwas Gewöhnlicheres als eine ausgedachte Figur?
    Gabčik also gab es wirklich, und er hörte tatsächlich auf diesen Namen (wenn auch nicht immer). Seine Geschichte ist ebenso wahr wie außergewöhnlich. Er und seine Kameraden sind meiner Ansicht nach die Schöpfer eines der größten Widerstandsakte der Geschichte und fraglos der Inbegriff des Widerstandskampfes im Zweiten Weltkrieg. Schon seit langem wollte ich seine Verdienste würdigen. Schon seit langem sehe ich ihn vor mir, wie er in dem kleinen Zimmer bei geschlossenen Fensterläden und geöffnetem Fenster ausgestreckt daliegt und dem Quietschen der Tram lauscht, die vor dem Botanischen Garten anhält (in welche Richtung sie fährt? Ich weiß es nicht). Doch wenn ich diese Vorstellung auf Papier banne, wie ich es mir soeben anmaße, bin ich nicht sicher, ob ich ihm damit wirklich einen Dienst erweise. Ich setze diesen Mann zu einer gewöhnlichen Figur herab und seine Taten zu Literatur: infame Alchemie – aber was soll ich machen? Ich möchte diese Vision nicht mein gesamtes Leben mit mir herumschleppen, ohne zumindest den Versuch unternommen zu haben, sie freizusetzen. Dabei hoffe ich nur, dass hinter der dicken Spiegelschicht meiner Idealisierung, die ich auf diese sagenhafte Geschichte auftragen werde, das unverfälschte Bild der historischen Wirklichkeit noch sichtbar bleibt.

2
    Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann mein Vater mir zum ersten Mal von dieser Geschichte erzählte, aber ich sehe ihn noch vor mir, wie er in meinem Zimmer unserer Sozialwohnung die Worte «Partisanen», «Tschechoslowaken», vielleicht auch «Attentat», ganz sicher «liquidieren» fallenlässt und schließlich diese Jahreszahl: «1942». In seiner Büchersammlung hatte ich die Geschichte der Gestapo von Jacques Delarue gefunden und gerade in die ersten Seiten reingelesen. Mein Vater sah mich mit dem Buch in der Hand und warf mir im Vorübergehen ein paar Bemerkungen zu: Er erwähnte Himmler, den Reichsführer SS, und dessen rechte Hand, Heydrich, den Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Und er erzählte mir von einem tschechoslowakischen Kommando, das von London ausgesandt worden war, und eben von dem Attentat. Die Einzelheiten waren ihm nicht bekannt (und ich hatte auch keinen Grund, ihn danach zu fragen, da dieses geschichtliche Ereignis in meinem Kopf damals noch nicht den Stellenwert einnahm wie heute). Aber ich spürte diese gewisse Aufregung bei ihm, die er an den Tag legt, wenn er etwas, das ihn auf irgendeine Weise beeindruckt hat, erzählt (meist zum hundertsten Mal, weil er sich – Berufskrankheit oder schlicht Veranlagung – gern wiederholt). Ich glaube nicht, dass ihm selbst jemals bewusst wurde, welche Bedeutung er dieser Anekdote beimaß, denn als ich ihm vor kurzem von meiner Absicht erzählte, ein Buch darüber zu schreiben, nahm ich bei ihm lediglich höfliche Neugier wahr, ohne besondere Gefühlsregung. Doch ich weiß, dass ihn diese Geschichte immer fasziniert hat, auch wenn sie bei ihm keinen so starken Eindruck hinterließ wie bei mir. Also schreibe ich dieses Buch auch, um ihm etwas zurückzugeben: die
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