Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selection

Selection

Titel: Selection
Autoren: Kiera Cass
Vom Netzwerk:
nicht abverlangen. Er wollte nicht, dass ich an dem Casting teilnahm. Aber er wusste sehr genau um die Vorteile, selbst wenn ich nur einen einzigen Tag im Palast sein würde.
    »Bitte nimm Vernunft an, America«, sagte Mom. »Wir sind wahrscheinlich die einzigen Eltern des Landes, die ihre Tochter dazu überreden müssen. Denk doch an diese großartige Chance! Du könntest eines Tages Königin sein!«
    »Mom. Selbst wenn ich Königin sein wollte – was ich absolut nicht will –, gibt es Tausende von Mädchen aus der Provinz, die daran teilnehmen wollen. Tausende. Und selbst wenn man mich auswählt, sind da immer noch vierunddreißig andere, die sich garantiert viel besser auf Verführung verstehen als ich.«
    Gerad horchte auf. »Was ist Verführung?«
    »Nichts«, antworteten wir alle wie aus einem Munde.
    »Es ist völlig albern zu glauben, dass ich Siegerin werden könnte«, endete ich.
    Meine Mutter schob ihren Stuhl zurück, stand auf und beugte sich über den Tisch. »Aber irgendeine wird die Siegerin, America. Und deine Chancen stehen so gut wie die der anderen.« Sie warf ihre Serviette auf den Tisch und ging hinaus mit den Worten: »Wenn du aufgegessen hast, musst du dein Bad nehmen, Gerad.«
    Mein Bruder stöhnte.
    May aß schweigend weiter. Gerad wollte noch einen Nachschlag, aber es gab nichts mehr. Als die beiden aufstanden, fing ich an, den Tisch abzuräumen. Dad blieb sitzen und trank seinen Tee. Er hatte wieder Farbe in den Haaren, einen gelben Klecks, der mich zum Lächeln brachte. Dann stand er auf und wischte sich Krümel vom Hemd.
    »Tut mir leid, Dad«, murmelte ich, als ich die Teller zusammenstellte.
    »Sei nicht albern, mein Kätzchen. Ich bin dir nicht böse.« Er lächelte leichthin und legte mir den Arm um die Schultern.
    »Ich will nur?…«
    »Du musst mir nichts erklären, Schätzchen. Ich weiß Bescheid.« Er küsste mich auf die Stirn. »Ich geh wieder an die Arbeit.«
    Ich bereitete in der Küche den Abwasch vor. Mein Essen hatte ich kaum angerührt. Ich bedeckte es mit einer Serviette und stellte den Teller in den Kühlschrank. Die anderen hatten höchstens ein, zwei Krumen übrig gelassen.
    Ich seufzte und ging in mein Zimmer. Die ganze Sache war zum Verrücktwerden.
    Wieso setzte Mom mich so unter Druck? War sie nicht zufrieden mit ihrem Leben? Liebte sie Dad nicht? Warum reichte ihr das nicht aus, was wir hatten? Warum musste sie immer so einen Stress machen?
    Ich legte mich auf mein Bett mit der klumpigen Matratze und versuchte die Sache mit dem Casting zu durchdenken. Sie hatte gewiss auch ihre Vorteile. Es wäre auf jeden Fall schön, eine Weile genug zu essen zu haben. Aber es war ohnehin überflüssig, sich darüber Gedanken zu machen. Ich würde mich nicht in Prinz Maxon verlieben. Ich hatte ihn einmal in dem wöchentlichen Bericht aus dem Capitol gesehen und fand ihn nicht mal besonders sympathisch.

    Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis endlich Mitternacht war. Neben meiner Tür hing ein Spiegel. Ich überprüfte, ob meine Haare noch so gut aussahen wie morgens, und legte eine Spur Lippenstift auf, damit ich ein bisschen Farbe im Gesicht hatte. Mom hatte angeordnet, dass Schminksachen aufgespart werden sollten für Auftritte, aber in Nächten wie dieser genehmigte ich mir ein bisschen Make-up.
    Möglichst lautlos schlich ich in die Küche und packte die Reste meines Essens, etwas altbackenes Brot und einen Apfel zusammen. Dann ging ich in mein Zimmer zurück, machte das Fenster auf und schaute hinaus in unseren kleinen Garten hinter dem Haus. Es gab kaum Mondlicht, und ich musste warten, bis meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Hinter dem Rasen konnte ich die Umrisse unseres Baumhauses erkennen. Als wir noch Kinder waren, hatte Kota immer Bettlaken an die Äste gebunden, damit es wie ein Schiff aussah. Er war Kapitän und ich erster Offizier. Meine Pflichten damals bestanden hauptsächlich darin, aufzukehren und Essen zu machen, das aus Erde und Zweigen in Moms Bratpfannen bestand. Kota nahm dann einen Löffel voll von dem Zeug und »aß« es, indem er es über die Schulter warf. Dann musste ich natürlich schon wieder auskehren, aber das machte nichts. Ich war froh, überhaupt mit Kota auf dem Schiff sein zu dürfen.
    Ich schaute mich um. In den Häusern nebenan war alles dunkel; niemand sah mich. Vorsichtig kletterte ich aus dem Fenster. Zu Anfang hatte ich mir dabei blaue Flecke zugezogen, aber inzwischen fiel es mir leicht. Ich hatte die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher