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Capitol

Capitol

Titel: Capitol
Autoren: Orson Scott Card
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bereit; denn des Menschen Sohn wird kommen zu einer Stunde, da ihr es nicht meinet.
    – Matthäus 24:43-44
     
    Der Gouverneur hatte ein Teleskop und konnte damit umgehen. Es war bei weitem nicht das leistungsstärkste in der Kolonie, aber die anderen waren nur für fotografische Aufnahmen geeignet, und das des Gouverneurs war das einzige Teleskop auf Answer, durch das man mit dem bloßen Auge sehen konnte.
    Und er sah oft hindurch. Andere Männer mochten sich bei alkoholischen Getränken und Konversation entspannen, sie mochten sich mit primitiven Spielen, Büchern oder Sex beschäftigen, des Gouverneurs Zerstreuung aber war es, die Sterne zu beobachten.
    Als von Menschen besiedelte Kolonie war Answer erst dreihundert Jahre alt, aber es war eine angenehme Welt, und die ursprüngliche Bevölkerung von 334 Menschen war auf über fünf Millionen angewachsen. Die Familien hatten im Durchschnitt sechs Kinder. Es gab in der Natur keine Raubtiere, und Krankheiten waren selten und niemals tödlich. Bis hierher war Somec noch nicht gedrungen, und deshalb war die Lebenserwartung natürlich geringer – wenige wurden mehr als hundert Jahre alt. Aber der Gouverneur, der erst vierzig war, konnte sich noch an die Zeit erinnern, da es auf der Welt kein Gebäude gegeben hatte, das mehr als zwei Stockwerke hoch war.
    Jetzt stand er oben auf dem Regierungsgebäude und beobachtete den Himmel. Mit seiner Frau und den vier Kindern, die noch im Haus waren, bewohnte er eine Suite im obersten Stockwerk des Gebäudes. Nach hiesigen Normen war sie luxuriös – separate Zimmer für jeden einzelnen, und es wurde in getrennten Räumen gekocht und gegessen. Luxus. Wohlstand. Aber nicht aus dem Rahmen fallend – auf Answer lebten Dutzende von reichen Familien besser als er.
    Und tatsächlich war er nicht so sehr deshalb Gouverneur, weil er der bedeutendste Mann auf Answer war, sondern weil er bereit war, die Arbeit zu machen. Und er war deshalb bereit, die Arbeit zu machen, weil sie nicht seine ganze Zeit und all seine Gedanken in Anspruch nahm. Sie ließ ihm ausreichend Muße, in Ruhe seinen Gedanken nachzuhängen. Der Job war gut dotiert und verschaffte ihm und seiner Familie einiges Ansehen. Außerdem war er ein guter Gouverneur, und das wußte er auch. Man achtete ihn, und seine Urteile und Entscheidungen wurden beachtet und ohne Murren befolgt. Seit seiner Wahl hatte man keine gesetzgebende Versammlung einberufen müssen.
    Nach Dienstschluß ging er allerdings immer nach oben.
    »Warum beobachten Sie so oft die Sterne?« fragte ihn einer seiner Assistenten eines Tages.
    »Weil«, antwortete er, »sie nie einschlafen, wenn ich mit ihnen spreche.«
    Aber es war eine gute Frage, und er dachte über eine Antwort nach.
    Er wußte, daß um viele von ihnen (und er konnte sie nennen und zeigen, und er wußte, wie weit entfernt sie waren) die Planeten des Reiches kreisten. Viele Milliarden von Menschen – es ging über seine Vorstellungskraft hinaus. Er wußte, wenn er alle Sterne zählen könnte, die er während eines Jahres durch sein Teleskop betrachtete, es immer noch weniger sein würden als die Anzahl der Menschen im Reich. Und doch, wenn er an Menschen dachte, fiel ihm nur Answer ein, wo ganze Kontinente noch unbewohnt waren, wo keine Stadt mehr als dreißigtausend Einwohner hatte, wo es noch jungfräulichen Acker zu pflügen gab, und wo man noch unberührte Erzlager entdecken konnte. Das Reich mochte alt und groß sein, aber hier war die Menschheit neu und klein, und die gewaltige Ausdehnung des Planeten ließ sie bescheiden bleiben, obwohl die weit größeren Entfernungen zwischen den Sternen schon von Menschen bewältigt worden waren.
    Und während er den Himmel beobachtete, stellte sich der Gouverneur vor, er könne die Raumschiffe sehen, deren Bahnen wie Fäden die gewaltigen Abstände zwischen den Sonnen überspannten. Sie wirkten ein Netz, und in diesem Netz war er gefangen.
    Wir tanzen auf dem Netz der Raumschiffe, sagte er zu sich selbst (oder zu den Sternen) und glauben, daß sie uns frei machen. Dabei könnte uns nur das Nichtvorhandensein von Raumschiffen befreien.
    Früher einmal befreiten diese Schiffe uns wirklich, als wir die übervölkerte Erde verließen, um zu entdecken, daß uns viel schönere, fruchtbarere und wohnlichere Planeten zur Verfügung standen. Seltsam, daß die der Erde entstammende Menschheit so viele Planeten entdecken sollte, die der Erde ähnlicher waren als die Erde selbst. Hatte es denn je etwas von so
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