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Capitol

Capitol

Titel: Capitol
Autoren: Orson Scott Card
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die Augen, bis der Richter mit wutverzerrtem Gesicht den Blick abwandte.
    »Die Beweislage ist eindeutig, und diese Befragung dient nur dazu, einem Verrückten beim Äußern seiner Verrücktheiten Zuhörer zu verschaffen. Schuldig. Das Urteil lautet: fünf Jahre Kerker und anschließende Deportation in eine andere Welt. Wir müssen diesen Krebs ausrotten, bevor er sich ausbreitet.«
    Der Verteidiger sagte: »Sir, wenn Sie den Krebs ausrotten wollen, warum schicken Sie ihn dann als Botschafter in eine andere Welt?«
    »Um ihn aus dieser wegzuschaffen«, antwortete der Richter knapp. Und dann waren Richter und Verteidiger erschrocken über das Gelächter des älteren Mannes.
    »Was ist daran so komisch?« knurrte der Richter.
    »Sie graben eine Kloake, schwimmen darin herum und beklagen sich über den Gestank! Man wird Sie eines Tages in Stücke reißen! Man wird Sie zerfetzen!«
    »Wer?« fragte Stipock. »Wer wird das tun?«
    »Geben Sie sich keine Mühe, Dr. Stipock«, sagte der Ankläger. »Sie werden nie zugeben, daß es eine Organisation gibt. Selbst unter Drogen nicht. Eine solche Selbstbeherrschung habe ich noch nie erlebt.«
    »Es gibt keine Organisation«, sagte der alte Mann. »Wer braucht eine Organisation? Ich meine, daß jeder, alle wirklichen Menschen, alle jene, die kein Somec bekommen und wissen, daß sie es nie bekommen werden – sie alle werden sich erheben und euch Schläfer aus den Wänden reißen, zerfetzen und an die Tiere verfüttern. Sie werden die Kommandanten der Raumschiffe töten und die Wissenschaftler und die Politiker und die Geschäftsleute und die Gesellschaftsdamen und die Schauspieler und all das andere Gesindel, das glaubt, es könne ewig leben, während wir anderen sterben müssen, und es wird kein Somec mehr geben, und die Leute werden wieder Menschen sein, wie es ihnen bestimmt war!«
    Der alte Mann war rot im Gesicht. Zitternd war er aufgestanden und richtete einen Finger auf Stipocks Herz, und der peinlich berührte Richter ließ ihn abführen. »Es tut mir so leid«, wiederholte der Richter immer wieder Stipock gegenüber. »Aber Sie sehen ja, wie schwer es ist, sie unter Kontrolle zu halten.«
    Stipock schüttelte den Kopf und versicherte, daß er sich keine Sorgen mache. »Verbrecher gibt es überall«, sagte Stipock. Und dann fragte er. »Was, wenn der Mann recht hätte? Was, wenn tatsächlich jeder rebelliert, der kein Somec bekommt?«
    Der Richter wischte den Gedanken lachend vom Tisch. »Da besteht nicht die geringste Gefahr. Kaum eine lebende Seele lebt nicht in der Hoffnung, eines Tages genug Geld oder Macht oder Prestige zu besitzen, um Somec zu bekommen. Und die meisten älteren Leute, die es selbst nie bekommen werden, arbeiten, um ihren Kindern eine Chance darauf zu verschaffen. Sie sind alle Teil des Systems, und es sind nur ein paar isolierte alte Fanatiker wie dieser, die verrückt spielen. Aber das können wir nicht verhindern. Wir müßten jeden einzelnen alten Mann und jede einzelne alte Frau in dieser Welt überwachen, und das ist einfach nicht möglich.« Er fügte noch einige untertänige Entschuldigungen hinzu.
    Aber Stipock hatte den alten Mann ernster genommen, als er vorausgesehen hatte. Er hatte nie gewußt, daß irgend jemand außerhalb ihrer kleinen und lange aufgelösten religiösen Gruppe Somec gehaßt hatte. Aber jetzt erinnerte er sich an seine ganze Kindheitserziehung – eine Erziehung, die er so leicht abgestreift hatte. Somec war nicht deshalb von Übel, weil Gott es verbot. Es war von Übel, weil es das Universum in zwei Klassen von Menschen einteilte: die wenigen mit ewigem Leben und den Rest, der zum Sterben verurteilt war.
    Er begann einzusehen, wie wenige der Leute, die Somec bekamen, in irgendeiner Weise bemerkenswert waren. Es waren die Angehörigen von Somec-Benutzern, die durch dieselbe Lücke die Schlafräume erreicht hatten, durch die auch Garols Eltern geschlüpft waren. Oder es waren die reichen und glücklichen Gewinner von Lotterien. Oder es waren knallharte Geschäftsleute, die das Glück auf ihre Seite gezwungen hatten. Oder es waren Frauen, die mit Männern schliefen, die ihnen genug Geld geben konnten, so daß sie sich Somec erlauben konnten. Oder es waren die Darsteller von Live Shows oder moderne Künstler oder Politiker die oft genug gewonnen hatten. Und bei einigen von ihnen konnte Garol keinen auch nur denkbaren Grund entdecken. Sie hatten Somec bekommen, weil das System der Verteilung nach Verdienst ein Witz war.
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