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Tropfen im Ozean

Tropfen im Ozean

Titel: Tropfen im Ozean
Autoren: Subina Giuletti
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Ein zweiter Tag
     
    Als ich über die Wiese lief und mich dem Waldrand näherte, sah ich ihn schon stehen. Die seltsame, seitlich an den Stamm eines Baumes genagelte Tür war geöffnet, Sonne leuchtete heraus und er stand am Eingang wie eine Mutter, die sich auf ihren Erstklässler freut. Er winkte mir zu und ich winkte glücklich zurück. Mein Herz weitete sich, während mir im gleichen Moment bewusst wurde, dass wir gestern, bei unserem ersten Treffen, keine zehn Sätze gewechselt hatten und hauptsächlich schweigend in der Sonne gesessen waren. Doch ein paar Sekunden später sah ich mit strahlenden Augen in die seinen und fühlte mich bis in die letzte Zelle willkommen. 
    Sein Lächeln war atemberaubend offen, seine beiden Hände umgriffen die meinen und hüllten sie ein in einen sanften Schutz. 
    „Wie schön... du bist gekommen“, sagte er und grinste. Das war kein Lächeln. Es war ein lausbubenhaftes, ansteckendes Grinsen, das mir sofort die Mundwinkel nach oben bog.
    „Ich konnte es kaum erwarten! Ich hab sogar von Ihnen geträumt!“ hörte ich mich sagen.
    „Tatsächlich!“ rief er und lachte. „Hoffentlich war’s kein Albtraum!“
    „Gott bewahre, genau das Gegenteil“, gab ich zurück. „Ich hab schon lange nicht mehr so gut geschlafen wie heute Nacht.“
    Es war seltsam. Da war kein Graben zwischen uns, kein Bedarf, uns miteinander vertraut zu machen. Wir waren miteinander vertraut. Wir kannten uns. Ich wusste, ich war mit diesem Mann auf eine Weise verbunden, die mein Kopf nicht verstand.
    Der alte Mann schloss die Tür am Baumstamm sorgfältig von innen, was zwar nutzlos war, mir aber das erhabene Gefühl gab, dass nichts und niemand uns stören würde. Den Schlüssel mit den kunstvoll verschlungenen Ornamenten steckte er mit einem verschmitzten Lächeln in seine Hosentasche, dann bot er mir in alter Manier den Arm und ging mit mir in die Sonne, Richtung moosbewachsene Bank.  
    Es war wie ein lichter Traum. Schon bei den ersten Schritten nahm ich die Schönheit des Waldes anders wahr als sonst. Ich roch den Duft der Nadeln, von fruchtbarer Erde, und dachte beglückt:
    „Eines der schönsten Dinge dieser Welt ist Sonne, die auf Blattgrün scheint.“
    Und dann kam mir, überhaupt seit langem wieder so etwas Ähnliches wie Glück zu verspüren – weil Sonne ein Blatt in Licht tauchte? War es wirklich so einfach, glücklich zu sein? Der alte Mann schaute mich an.
    „So ist das“, sagte er „Schönheit, die man im Außen wahrnimmt kommt immer von innen. Von woher sonst?“
    Ich verstand nicht, was er meinte, wollte aber den Moment nicht zerstören und schwieg daher.
    Es war leicht, die paar Minuten bis zu der Bank zu genießen. Es war leicht, an der Seite dieses Mannes zu schweigen. Ich wollte nicht wissen, wie er hieß, wollte nicht wissen, wo er herkam, wollte nicht wissen, was er möglicherweise erlitten hatte und warum er hier im Wald war. Ich war glücklich, dass er hier war und genoss das Gefühl in vollen Zügen.
    An der Bank angekommen, erwartete mich eine weitere Überraschung: Auf einem kleinen, runden, schmiedeeisernen Tischchen stand eine Teekanne mit chinesischen grün-goldenen Szenerien auf einem passenden Rechaud, zwei Teetassen aus hauchdünnem Porzellan und eine kleine Vase mit einem blühenden Apfelzweig darin. Das Bild war so idyllisch, dass ich mein Entzücken darüber laut zum Ausdruck brachte. 
    Er strahlte mich an und wies mit der Hand auf einen Platz auf der sonnenbeschienenen Bank. Die Vögel zwitscherten, der Wind rauschte leicht in den Wipfeln der Bäume, der Geruch des Waldes umfing uns und es war still und friedlich auf dieser Lichtung im Wald.
    „Es ist so schön hier“, murmelte ich.
    „Ja, es ist schön hier“, antwortete er und schenkte mir mit heiterem Gesicht Tee ein. Seine Gesichtshaut war erstaunlich fest, um die Augen hatte er unzählige Lachfältchen, er war sorgfältig rasiert und man konnte auf den Wangen wie auf seinen grazilen Händen Altersflecken entdecken. Auch der Mund war der eines alten Mannes: die Lippen nicht mehr so voll, wie sie wohl einst gewesen waren und die Oberlippe wies die vom Alter üblichen Falten auf. Wie alt mochte er sein? Ich sah mich außerstande, irgendeine Schätzung abzugeben, weil seine Augen, seine ganze Ausstrahlung, alle Runzeln vergessen machte. Man sah sie einfach nicht. Das heißt, man sah sie, wenn man sie sehen wollte, aber nicht, wenn man ihn in seiner Gesamtheit auf sich wirken ließ.
    Urplötzlich
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