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Capitol

Capitol

Titel: Capitol
Autoren: Orson Scott Card
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schaffen. Außer jeder einzelne bekäme Somec auf gleicher Ebene. Aber dann brauchte es Somec überhaupt nicht zu geben.« Und als er diese Worte laut ausgesprochen hatte, wußte er, daß er den Schlüssel gefunden hatte.
    Somec gewährt nur die Illusion der Unsterblichkeit, und das nur, solange der größte Teil der Menschheit in normalem Schneckentempo weiterlebt. Wenn niemand schon nach einem Jahrhundert sterben muß, verliert ein fünf oder zehn Jahrhunderte dauerndes Leben jeden Reiz. Wir fühlen, daß wir nur leben können, solange sie sterben – und das ist die Wahrheit. Wenn sie erst einmal so lange lebten wie wir, würden wir versuchen, noch länger zu leben.
    Zerstörer der Seelen, Stifter von Haß. Somec stiehlt das Leben. Die alten, in der Kirche der Unsterblichen Stimme leidenschaftlich ausgestoßenen Verfluchungen fielen ihm wieder ein. Und nach all diesen Jahren erkannte er, daß die Propheten recht gehabt hatten. Somec war ein Mörder. Somec bedeutete die Zerstörung der Menschheit. Somec verlieh denen, die es benutzten, keine zusätzlichen Lebensjahre – aber es ließ das Leben derer, die es nicht benutzten, wertlos erscheinen, empörend kurz erscheinen, hoffnungslos erscheinen.
    Sie hatten recht.
    Und als er in seinem Arbeitszimmer saß, seinen Gewohnheiten folgend hätte er eigentlich schon im Bett liegen sollen, dachte er über all die anderen Doktrinen nach, an die er sich erinnern konnte. Die Kirche hatte Sex ohne tiefere Empfindung verdammt, und sie hatte recht – er hatte beiläufige und selbst leidenschaftliche Affären schon vor Jahren aufgegeben, ohne es eigentlich zu wollen. Die Kirche verdammte den Profit, und er hatte gesehen, wie grausam Männer und Frauen sein mußten, die Profit erstrebten. Die Kirche verdammte fleischliche Lüste, und bei seinem asketischen Lebensstil wußte Garol Stipock, daß er ohne sie glücklicher war als vor seiner Enthaltsamkeit.
    Die Gottesfrage war es, die die Kirche sinnlos erscheinen ließ. Stipock war müde und mutlos und ganz verzweifelt bei dem Gedanken, daß er es nie schaffen würde, etwas zum Guten zu verändern. Er ging an den Computer und stellte ihn auf enzyklopädischen Modus ein. Dann drückte er die Taste für Geschichte und schaltete auf Religion. Er rief die Angaben für Capitol ab und zuletzt auch alle Informationen über die Kirche der Unsterblichen Stimme.
    Überrascht stellte er fest, daß die Liste ständiger Mitglieder immer noch seinen Namen enthielt – die Liste verzeichnete Milliarden von Namen und Kurzbiographien seit die Kirche damals auf der Erde gegründet wurde.
    Zuerst war er höchst erstaunt darüber, daß jemand sich all diese Mühe gemacht hatte, nur um Informationen über Kirchenmitglieder zu sammeln – bis ihm klar wurde, daß es sich lediglich um die Standardbiographien handelte, die das Amt für Bevölkerungsstatistik ständig auf dem neuesten Stand hielt und in der Zentralbibliothek speicherte. Die Liste der Kirchenmitglieder war einfach aus der Zentralstatistik abgerufen worden.
    Er suchte ohnehin keine Namen, und endlich, nachdem er einiges Material geprüft hatte, stieß er auf die Äußerungen des Propheten Amblick. Er ließ sie alle durch den Computer laufen. Dann las er die letzten Worte der Unsterblichen Stimme.
    Die Stimme hatte es gewußt. Die Stimme war die Stimme eines Abschaffers.
    »Diejenigen, die aus der Zukunft borgen, müssen zurückzahlen«, hatte Amblick gesagt, und es stimmte.
    Aus den vagen Worten erkannte Garol, daß die Stimme (nein, nein, nicht die Stimme, sondern Amblick in seinen letzten Worten) eine Revolution vorausgesagt hatte, die nicht deshalb kam, weil man sich wieder darauf besonnen hatte, an die Stimme zu glauben, sondern weil im Wald die Tiger rasten – jene, die man für weniger menschlich hielt, werden entdecken, daß sie Macht haben, und sie werden diese Macht einsetzen, um ihre Unterdrücker zu vernichten. Und wenn es kein Somec mehr gab, wäre auch das Ende des Reiches gekommen – die Raumschiffe würden nicht mehr zu den Sternen reisen.
    Die Genauigkeit dieser Prophezeiung war leicht zu erklären: Ein kluger Mann konnte schon vor zweihundert Jahren sehr leicht die allgemeine zukünftige Entwicklung voraussehen – und Amblick war ein kluger Mann gewesen.
    Am meisten beunruhigt war Garol über den letzten Teil der Prophezeiung. »Nur einer von euch wird das Ende erleben«, hatte der alte Mann gesagt. »Und er wird nicht wissen, ob sein Gott die letzte Schlacht gewonnen oder
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