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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition)
Autoren: Jed Rubenfeld
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KAPITEL EINS
     
    Glück ist kein Geheimnis. Unglückliche Menschen sind alle gleich. Eine vor langer Zeit erlittene Verletzung, ein unerfüllter Wunsch, ein Schlag gegen den Stolz, ein durch Verachtung oder, schlimmer noch, Gleichgültigkeit erstickter erster Funke der Liebe haftet an ihnen, und so erleben sie jeden Tag nur durch einen Schleier des Gestern. Ein glücklicher Mensch blickt nicht zurück. Er blickt auch nicht nach vorn. Er lebt in der Gegenwart.
    Doch da liegt auch der Haken. Denn eins hat die Gegenwart nicht zu bieten: Sinn. Glück und Sinn gehen stets getrennte Wege. Um Glück zu finden, muss ein Mensch ausschließlich im Augenblick leben; er muss nur für den Augenblick leben. Will er aber Sinn finden – den Sinn seiner Träume, seiner Geheimnisse, seines Lebens -, muss er seine Vergangenheit aufsuchen, auch wenn sie noch so dunkel, und sich an der Zukunft orientieren, auch wenn sie noch so ungewiss ist. So lockt die Natur uns alle mit Glück und Sinn – und besteht doch darauf, dass wir uns für eins von beiden entscheiden.
    Ich persönlich habe immer den Sinn gewählt. Und so kam es letztlich wohl auch, dass ich am Sonntagabend, dem 29. August 1909, im dichten Gedränge bei schwülen Temperaturen am Hafen von Hoboken auf die Ankunft des Dampfers George Washington der Norddeutschen Lloyd wartete, der von Bremen aus den einen Mann an unsere Küste führte, den ich mehr als jeden anderen auf der Welt kennenzulernen wünschte.
    Um sieben Uhr war noch immer nichts von dem Schiff zu sehen. Mein Freund und Kollege Abraham Brill hatte sich aus dem gleichen Grund wie ich am Hafen eingefunden. Er zappelte vor Unruhe und rauchte ununterbrochen. Die Hitze war mörderisch, und in der Luft lag ein schwerer Gestank nach Fisch. Aus dem Wasser erhob sich ein unnatürlicher Nebel, als würde das Meer dampfen. Wie aus dem Nichts brandete von weiter draußen das dumpfe Tuten von Signalhörnern heran. Selbst die klagenden Möwen waren nur zu hören, aber nicht zu sehen. Mich überkam eine lächerliche Vorahnung, dass die George Washington im Nebel auf Grund gelaufen war und die zweitausendfünfhundert europäischen Passagiere dabei waren, zu Füßen der Freiheitsstatue jämmerlich zu ertrinken. Die Dämmerung brach herein, ohne dass die Temperaturen sanken. Wir warteten.
    Dann plötzlich stand das weiße Schiff vor uns – es war nicht als winziger Punkt am Horizont aufgetaucht, sondern hatte sich in seiner ganzen gigantischen Größe aus dem Nebel geschält. Mit einem kollektiven Ächzen wich der ganze Pier vor der Erscheinung zurück. Doch bald hatten erste Ausrufe der Hafenarbeiter den Bann gebrochen. Taue wurden geworfen und gefangen, und hektische Betriebsamkeit setzte ein. Nach wenigen Minuten waren Hunderte von Stauern mit dem Entladen der Fracht beschäftigt.
    Brüllend forderte mich Brill auf, ihm zu folgen, und pflügte sich durch zur Landungsbrücke. Als er allerdings an Bord gehen wollte, wurde er abgewiesen. Niemand durfte das Schiff betreten oder verlassen. Erst nach einer geschlagenen Stunde zupfte mich Brill am Ärmel und deutete auf drei Passagiere, die die Brücke herunterkamen. Der erste von ihnen war ein distinguierter, äußerst gepflegter Herr mit grauem Haar und grauem Bart, in dem ich sofort den Wiener Psychiater Dr. Sigmund Freud erkannte.

     
    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Stadt New York von einem architektonischen Paroxysmus erschüttert. In schneller Folge schossen gigantische Türme, sogenannte Wolkenkratzer, in die Höhe, die größer waren als alle bis dahin von Menschenhand errichteten Bauwerke. Bei einer feierlichen Eröffnung 1908 an der Liberty Street applaudierten die Zylinderträger, als Bürgermeister McClellan das siebenundvierzigstöckige Singer Building aus rotem Ziegel und blauem Tonsandstein zum höchsten Gebäude der Welt erklärte. Eineinhalb Jahre später musste der Bürgermeister diese Zeremonie beim fünfzigstöckigen Metropolitan Life Tower an der Twenty-fourth Street wiederholen. Dabei hatten zu diesem Zeitpunkt im Süden der Stadt schon die Arbeiten an dem atemberaubenden achtundfünfzigstöckigen Koloss von Mr. Woolworth begonnen.
    In jedem Block erschienen gewaltige Stahlträgerskelette, wo tags zuvor noch leere Grundstücke gegähnt hatten. Ununterbrochen ertönte das Krachen und Kreischen der Löffelbagger. Das Geschehen war nur vergleichbar mit Haussmanns Verwandlung von Paris ein halbes Jahrhundert vorher, allerdings mit dem Unterschied, dass in
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